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Grundschule – Vorurteilsbewusste Erziehung und Inklusion

Marianne Demmer (Stellvertretende Vorsitzende der GEW)

Sind Grundschulen inklusive Schulen?

Die Grundschulzeit ist im traditionellen deutschen Schulsystem die einzige Schulzeit, die zumindest fast alle Kinder eines Wohngebietes gemeinsam erleben. Die bunte Truppe ganz unterschiedlicher Kinder, die armen und reichen, die großen und kleinen, die schwachen und starken, die weißen und farbigen, macht sich morgens zu Fuß, per Schulbus und manche auch per Taxi Mama auf in die Schu-le. Allerdings: Kinder mit Behinderungen werden häufig auch schon vor ihrem Schuleintritt oder während der Grundschulzeit in Sonder- oder Förderschulen ausgesondert. Nur etwa ein Fünftel der Kinder mit Behinderungen besuchen derzeit gemeinsam mit den übrigen Kindern die Grundschule.

Nach der Grundschulzeit ist es mit Inklusion dann endgültig ganz schwierig. Erstens findet beim Übergang in die sog. weiterführenden Schulen eine strenge Auslese statt. Angeblich nach Begabung. Tatsächlich aber vor allem auch nach der sozialen Herkunft. Die IGLU-Studie, die internationale Grundschulleseuntersuchung, hat gezeigt, dass Akademikerkinder auch bei mittelmäßigen Leistun-gen eine Gymnasialempfehlung bekommen, während Kinder aus Arbeiterfamilien Überflieger sein müssen. Die Grundschullehrerinnen und -lehrer haben gemeinsam mit den Eltern die ungeliebte Aufgabe, zu sortieren und auszulesen.

Und zweitens findet nur etwa die Hälfte der Jungen und Mädchen mit Behinderungen, die in der Grundschule mit den anderen gelernt haben, nach der Grundschule einen Platz in einer weiterfüh-renden Schule: Wenn überhaupt, dann überwiegend in Hauptschulen und Integrierten Gesamtschu-len.

Von einem inklusiven Schulsystem kann – auch in der Grundschule – keine Rede sein. Das deutsche Schulsystem ist im Gegenteil hoch selektiv und dazu auch noch sozial ungerecht.

Allerdings bemühen sich viele Grundschulen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten eine inklusive Schule zu sein, eine Schule für alle Kinder. Das ist nicht immer einfach. Oft sind die Klassen zu groß, die Schule ist nicht barrierefrei, es fehlen Hilfsmittel und Unterstützung. Oft haben die Lehrkräfte Angst, sie wären ihren Aufgaben nicht gewachsen, wenn z.B. der Anteil nicht deutschsprachiger Kinder sehr hoch ist. Und über allem schwebt ständig das Damoklesschwert bewerten zu müssen und eine Selek-tionsentscheidung vorbereiten zu müssen. Eltern (und Kinder) fragen spätestens ab Beginn des drit-ten Schuljahrs, ob es denn für eine Gymnasialempfehlung reicht.

Wie steht es mit der vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung in der Grundschule?

Die allermeisten Grundschullehrerinnen und -lehrer möchten jedem Jungen und jedem Mädchen gerecht werden. Sie möchten alle Kinder unterstützen, ihnen reiche Möglichkeiten für ihre Lern- und Bildungsprozesse eröffnen, in denen sie sich erproben, gemeinsam mit anderen handeln, Phänome-ne dieser Welt durchdringen und besser verstehen können. Sie möchten den Unterricht so gestal-ten, dass sich alle optimal entwickeln können. Die Kinder kommen jedoch mit sehr verschiedenen Voraussetzungen und Erfahrungen in die Schule. Hinsichtlich der Voraussetzungen, die zum Beispiel für das Lesenlernen wichtig sind, spricht die Wissenschaft von Entwicklungsunterschieden von bis zu vier Jahren bei sechsjährigen Kindern. Am Ende der Grundschulzeit sollen jedoch alle z.B. eine Lese-kompetenz erworben hat, die sie fähig macht, das Lesen zum Lernen einzusetzen und nicht mehr das Lesen lernen zu müssen. Die Bildungsstandards der KMK setzen dieses Ziel. Ungefähr 80 Prozent erreichen dieses Ziel, aber 20 Prozent – zwei Drittel davon Jungen – gelingt es nicht. Das hat die Über-prüfung durch VERA ergeben. VERA ist die Abkürzung für landesweite Vergleichsarbeiten, um die es immer wieder viel Ärger gibt, weil die Anforderungen für benachteiligte Kinder viel zu hoch sind.

Aber nicht nur die Kinder sind verschieden, auch die Lehrkräfte sind es. Aber sie bilden doch eine homogenere Gruppe als die Jungen und Mädchen, die sie unterrichten. Die Lehrkräfte gehören der Mittelschicht an, sie kennen die Realität von Hartz-Vier-Familien nicht aus eigener Erfahrung. Sie sind zu über 90 Prozent deutschstämmig. Ihnen ist die Realität von Migrationsfamilien in der Regel fremd. Meistens sind es Frauen, die nicht aus eigener Erfahrung wissen, wie kleine Jungen ticken. Behindert sind sie in der Regel ebenfalls nicht. Auch ein Leben mit Behinderung kennen sie also nicht aus eige-nem Erleben. Ihre Schulerfahrungen und Leistungsvorstellungen stammen aus dem Gymnasium. Meistens sind sie – leidlich – gute Schüler und Schülerinnen gewesen, denen die Erfahrung zu schei-tern erspart geblieben ist. Das alles kann man ihnen nicht zum Vorwurf machen. Es zeigt aber, dass die Fähigkeit und Bereitschaft der Lehrerinnen und Lehrer, sich in andere Lebens- Denk- und Ge-fühlswelten hineinzuversetzen und die Bereitschaft zur Selbstreflexion sehr hoch sein müssen. Sonst können sie dem selbst gesetzten Anspruch nicht gerecht werden, Kinder individuell zu fördern und zu fordern. Sich klar zu werden, dass man selbst in den eigenen Erfahrungen und Vorurteilen zum Teil auch gefangen ist und die berühmten schwarzen Flecke hat, die das Licht der Erkenntnis noch nicht erreicht hat, ist ganz schwierig. Schwarze Flecke, das sagt schon das Bild, kann man selbst nicht er-hellen. Sie lassen sich nur in der Kommunikation mit anderen erhellen.

Der Umgang mit Heterogenität sowie vorurteilsbewusste Pädagogik sind immer noch keine obligato-rischen Lernfelder in der Lehrerausbildung. Genau so wie Supervision immer noch nicht zum Tätig-keitsbild von Lehrkräften gehört. Während der ersten und zweiten Phase der Lehrerausbildung liegt es im Ermessen der Hochschule und des Studienseminars, ob und welche Bedeutung diesen Fragen zugemessen wird. Später liegt es dann im Ermessen der Lehrkräfte selbst bzw. der Schulen, ob sie sich in diesen Fragen fort- und weiterbilden. Dies .ist natürlich ein unhaltbarer Zustand. Die GEW hat deshalb die Forderung erhoben, dass der Umgang mit Heterogenität und selbstreflexive Pädagogik obligatorischer Teil der Lehrerausbildung werden müssen. Und weil uns das alles nicht schnell genug geht, haben wir als GEW ein großes, stark nachgefragtes Fortbildungsprojekt zum individuellen Ler-nen und zum Umgang mit Heterogenität aufgelegt. Wir haben mit diesem Projekt darauf hingewie-sen, dass es einfach zu lange dauert, bis Studienordnungen und Kultusministerien auf gesellschaftli-che und pädagogische Notwendigkeiten reagieren. In einigen Bundesländern haben die Kultusminis-ter das mittlerweile verstanden. Und bieten ebenfalls entsprechende Fortbildungen an.

Gleichzeitig entwickelt die GEW auch erste Vorstellungen für eine gemeinsame Pädagogenausbil-dung, um die Barrieren zwischen Erzieher_innen, Sozial- und Schulpädagog_innen (langsam, aber sicher) abzubauen. Es soll das Bewusstsein dafür wachsen, dass es sich um dieselben Jungen und Mädchen handelt, die von Professionellen in ihren Lern- und Bildungsprozessen unterstützt werden – in unterschiedlichen Situationen und auf unterschiedlichen rechtlichen Grundlagen zwar, aber mit einem gemeinsamen Ziel.

Dies alles vollzieht sich in einer Zeit dramatischer Wandlungsprozesse. Die Anforderungen an die Schulen ändern sich. Nicht mehr das ist eine gute Schule, wo an hohen Anforderungen möglichst viele scheitern, sondern wo bei hohen Anforderungen möglichst kein Kind zurück gelassen wird. Nicht mehr das ist ein guter Lehrer, eine gute Lehrerin, die streng und unnachgiebig jeden sitzen lassen, der nicht mitkommt, sondern die wissen, wie man junge Menschen begeistert und motiviert und sie zu möglichst hohen Schulabschlüssen führt. Alles dies sind die Merkmale eines zeitgemäßen inklusiven Schulsystems und zeitgemäßen Lehrerbildes. Es gibt jedoch zwei Probleme: Das Schulsys-tem ist nicht inklusiv, sondern selektiv. Von den Lehrerinnen und Lehrer wird gleichsam erwartet, dass sie sich systemwidrig verhalten und heroisch den Verlockungen der Selektion widerstehen. Denn warum soll ich mich als Lehrer der problematischen Schülerinnen und Schüler nicht entledigen, wenn die Versetzungsordnungen diese Möglichkeit geradezu nahe legen? Und zweitens: Die Rah-menbedingungen sind in vielen Fällen mehr als bescheiden. Das fängt bei einer unfreundlichen und unpraktischen Raumsituation und Schularchitektur an und hört bei Lehrermangel, zu großen Lern-gruppen, zu wenigen Sozial- und Sonderpädagogen noch längst nicht auf.

Dennoch: An den Grundschulen ist viel in Bewegung, an vielen Grundschulen werden mit Leiden-schaft und viel Engagement neue Lernformen ausprobiert. Manchmal erscheint es mir zu viel und zu kurzatmig zu sein. So, wie über den Grundschulen immer das Damoklesschwert Selektion schwebt, sind die Grundschullehrer/innen immer in der Gefahr des Burnout. Das Projekt Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung als Kooperationsprojekt zwischen Jugendhilfe und Schulbereich verdient aus meiner Sicht eine starke Beachtung und Fortführung. Denn die Zusammenarbeit beider Bereiche, das Aufeinanderzugehen und Voneinanderlernen kann für alle Beteiligten nur gut sein. Und zu den Betei-ligten zähle ich vor allem auch die Jungen und Mädchen. Für sie sind Kitas und Grundschulen die ersten institutionellen Lern- und Bildungsorte, in denen die Grundlagen für das ganze weitere Leben gelegt werden.

Als beteiligte Pädagoginnen und Pädagogen müssen wir an verschiedenen Fronten gemeinsam kämpfen: Für unsere zeitgemäße Qualifizierung und für aufgabengerechte Rahmenbedingungen und Bezahlung.