« zur Liste aller Inhalte

Inklusion in der Ausbildung sozialpädagogischer Fachkräfte – Erfahrungen aus dem Projekt Kinderwelten

Petra Wagner:

Im laufenden Projekt sind erstmals auch Fachschulen für Sozialpädagogik beteiligt. Bundesweit ha-ben sich 32 Kollegen und Kolleginnen von 16 Fachschulen in einer Entwicklungswerkstatt damit be-schäftigt, wie Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung bereits in der Ausbildung von ErzieherInnen verankert werden kann – Beispiele haben Sie bereits in der Ausstellung sehen können.

Die Entwicklungswerkstatt bestand in vier jeweils zweitägigen Workshops, die das Ziel hatten, mit dem Ansatz vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung vertraut zu werden, die Inhalte mit Übungen zur Selbst- und Praxisreflexion auf sich selbst und auf die eigene Tätigkeit zu beziehen und Erfahrun-gen auszutauschen und auszuwerten, die zwischen den Treffen mit bestimmten Praxisaufgaben ge-macht wurden. Die Werkstatt wurde geleitet von Maureen Maisha Eggers, Professorin an der Hoch-schule Magdeburg-Stendal, von Anke Krause und mir vom KINDERWELTEN-Team.

Was dabei für sie besonders bedeutsam war, berichten nun zwei Kolleginnen, Isolde Meder und Kerstin Paulsen-Brink:

Kerstin Paulsen Brink & Isolde Meder:

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Projektbeteiligte, liebe Organisator_innen,

wir haben im Laufe dieses Tages viele interessante Beiträge zur Theorie und Praxis von Inklusion in Kita und Grundschule hören dürfen. Wir möchten nun den Reigen sozusagen schließen indem wir Ihnen einen ausschnitthaften Einblick geben wollen, was Inklusion für unsere Arbeit – die Ausbildung zukünftiger pädagogischer Fachkräfte – bedeutet und welche Diskussionen wir hierzu in der Entwick-lungswerkstatt geführt haben.

Vielfältige Ausbildungsgänge, unterschiedliche Zielgruppen

Es überraschte uns immer wieder die enorme Vielfältigkeit der Ausbildungsgänge unter den Fachschulen, die am Projekt KINDERWELTEN teilnehmen. Sie spiegeln die Vielfalt von unterschiedlichen Wegen zur Ausbildung von ErzieherInnen, von Einstiegsvoraussetzungen und Abschlüssen in Deutschland: Vertreten sind im Projekt sowohl die grundständige Ausbildung von SchülerInnen ab 16 Jahren an staatlichen und konfessionell gebundenen Fachschulen wie auch die berufsbegleitende Ausbildung, deren Teilnehmer_innen in der Regel über 30 Jahre alt sind und schon lange im Arbeitsleben stehen. Die Vielfältigkeit der Ausbildungsgänge korrespondiert mit großen Unterschieden unter den Auszubildenden, nicht nur nach Alter, sondern auch nach biographischen Hintergründen und Lebenssituationen, die sich wiederum in ihren Fragen spiegeln und unsere Unterrichtsinhalte und -gestaltung prägen.

Auch meine Kollegin Isolde Meder und ich vertreten ganz unterschiedliche Fachschulen:

Mein Name ist Kerstin Paulsen-Brink und ich arbeite an der Privaten Fachschule für Sozialpädagogik in der Trägerschaft des Paritätischen Bildungswerks in Bremen. Unsere Ausbildungsgänge sind beruf-liche Qualifizierungsmaßnahmen, die in Form von Umschulungen und berufsbegleitenden Ausbildun-gen stattfinden. Das Alter unserer Teilnehmer_innen liegt zwischen 25 und 45 Jahren.

Mein Name ist Isolde Meder und ich arbeite im staatlichen Berufsschulzentrum Heilbronn in der Fachschule für Sozialpädagogik. In dieser Vollzeitausbildung sind die Schülerinnen und Schüler zwi-schen 16 und 23 Jahre alt. Außerdem unterrichte ich in der 2jährigen Berufsfachschule für den Er-werb von Zusatzqualifikationen im Fachbereich Erziehung mit dem Schwerpunkt Kinder unter 3 Jah-ren. Die Teilnehmerinnen sind ausgebildete Kinderpflegerinnen oder Erzieherinnen im Alter von 23 – 56 Jahren.

Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung in der Fachschule: Vermittlung auf zwei Ebenen

Der programmatische Anspruch im Projekt KINDERWELTEN, „vorurteilsbewusst“ zu handeln – und eben nicht „vorurteilsfrei“! – ist für uns als Lehrkräfte in der Ausbildung von ErzieherInnen auf zwei Ebenen relevant: Zum einen thematisieren wir mit den Auszubildenden die Anforderungen an ihre zukünftige vorurteilsbewusste Praxis in Kitas. Zum anderen sind wir herausgefordert, die Ziele und Prinzipien auf unsere eigene Unterrichtspraxis zu beziehen. Ein zentrales Thema ist hierbei die Beschäftigung mit Macht und Privilegien und was sie mit uns selbst und unserer Berufsrolle zu tun haben.

Ich zitiere Petra Wagner, die sagt: „Niemand ist frei von Vorurteilen. Jede und jeder denkt in Verallgemeinerungen, bewertet eine ganze Gruppe auf der Grundlage einer einzelnen Erfahrung oder auch ohne jegliche persönliche Erfahrung. (…) Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher gehören zu den Personen, die im Verhältnis zu Kindern mehr Macht haben und deren Wertvorstellungen und Normorientierungen einen großen Einfluss ausüben – insbesondere auf junge Kinder.“

Der kritische Blick in den biographischen Rucksack

Um mich mit erkannten Vorurteilen auseinanderzusetzen, sie bestenfalls sogar abzulegen, bedarf es eines mutigen Blickes in den eigenen biographischen Rucksack. „Blick zurück nach vorn“ nennen wir dies in der Ausbildung und es soll die Notwendigkeit und den Nutzen beschreiben, das eigene indivi-duelle Gewordensein auch einmal kritisch zu beleuchten und tradierte Einstellungen und Haltungen zu hinterfragen.

Herkunft, äußere Merkmale, sozialer Status, Behinderungen – Kinder wachsen in einer Welt auf, in der sie schnell und unmissverständlich Botschaften darüber erhalten, was oder wer als schön oder hässlich gilt, dumm oder klug, akzeptiert oder nicht akzeptiert ist. Sich dieses klar zu machen, heißt für angehende ErzieherInnen, die Aktivitäten in Kitas und die verwendeten Materialien kritisch da-raufhin zu überprüfen, welche Bewertungen sie transportieren. Sind sie so, dass alle Kinder gleich-ermaßen gesehen, wertgeschätzt und repräsentiert sind – oder sind sie einseitig?

Wie werden Unterschiede thematisiert? Kritisch hinterfragt werden „touristische“ Ansätze und ent-sprechend klischeehafte und einseitige Spielmaterialien und Bilderbücher wie z. B. der „Afrika-Tag“ mit Gerichten aus dem großen Schmortopf, das Indianer-Projekt mit Tipi, Tomahawk und Totempfahl oder Bilderbücher, in denen samt und sonders weiße, deutsche Kinder die Protagonisten sind – auch wenn in Deutschland fast jedes dritte Kind unter 10 Jahren einen Migrationshintergrund hat.

Nicht nur, dass hier Kindern eine Welt vorgegaukelt wird, die es nicht gibt, es kommt auch die Bot-schaft herüber, dass Kinder aus Familien mit Migrationsgeschichte, mit verschiedenen Sprachen, Hautfarben, Religionen es nicht wert sind, als Akteure aufzutreten und sich in Abenteuern – oder auch nur im Alltag – zu behaupten.

Aber auch hier stellen wir fest, wie schwierig – und manchmal auch schmerzhaft der Blick in den bio-graphischen Rucksack sein kann. Fällt es den Studierenden vielleicht noch relativ leicht, auf allgemei-ner Ebene stereotype Darstellungen zu Indianern, Inuit und Afrika zu benennen und zu kritisieren, so fällt die kritische Betrachtung in der Kindheit geliebter Figuren wie Pippi Langstrumpf, Winnetou oder Hadschi Halef Omar ungleich schwerer und lässt uns als Lehrkräfte auf z. T. erhebliche Wider-stände stoßen.

Das hat Konsequenzen für unsere Unterrichtsgestaltung und die Methoden, die wir einsetzen: Wir brauchen Selbsterfahrung und Dialog, Erleben und Spüren und deren systematische Reflexion. Über reinen Theorieunterricht kann man nicht lernen, sich selbst zu verstehen. Biographische Reflexionen sind eine Voraussetzung für vorurteilsbewusstes Handeln.

Dies wird inzwischen auch schon von Kultusbehörden anerkannt: So haben z.B. die Fachschulen für Sozialpädagogik in Baden-Württemberg zum Schuljahr 10/11 einen neuen Lehrplan mit dem Titel „Unterschiedlichkeit und Vielfalt“ leben vorgelegt. Als Ziel wird u.a. beschrieben, dass die angehen-den ErzieherInnen „einen professionellen Umgang mit Unterschiedlichkeit und Vielfalt im Sinne einer inklusiven Pädagogik“ kennen lernen sollen, der „eine selbstkritische Reflexion der eigenen Gefühle und Werthaltungen“ erfordere, „um im Sinne einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung han-deln zu können“.

Selbsterfahrung und Benotungszwang: Paradoxe Anforderungen an Lehrkräfte

Nicht gelöst ist die Frage, wie Selbsterfahrung im schulischen, benotenden Rahmen stattfinden kann und wie wir entsprechende Lernfortschritte der SchülerInnen bewerten, unabhängig davon, ob diese Inhalte im festen Lehrplan, als Wahlpflichtfach oder als Arbeitsgemeinschaft angeboten werden. Wie misst man in Notenwerten neue Erkenntnisse, Erfahrungen, veränderte Lebenseinstellungen als Er-gebnis von Selbstreflexionsprozessen? Es sind paradoxe Anforderungen an uns Lehrkräfte: Einerseits sollen wir einen Raum für kritische Reflexionen schaffen sollen, in dem SchülerInnen ohne Angst ihren Vorurteilen, ihren verinnerlichten Vorstellungen von Normalität und Abweichung und deren Bedeutung in ihrer je besonderen Lebens-geschichte auf den Grund gehen können. Andererseits müssen wir die Ergebnisse auf ein Vergleichs-feld bringen und benoten.

Wir müssen unsere Bewertungspraxis überdenken z.B. keine Benotung geben, SchülerInnen eigene Einschätzungen abgeben lassen, Präsentationen beurteilen usw. Wertschätzung kann über andere Mittel als Benotung erfolgen. Zum Beispiel auch Lerngeschichten schreiben.

Da wir es in unserem Ausbildungsbereich nicht mit einem handwerklichen Gewerbe zu tun haben, wie Schuhe besohlen oder Brotteig kneten, steht bei uns die Vermittlung des reinen Fachwissens deutlich hinter der Arbeit an der inneren Haltung. Pädagogische Berufe erfordern weniger ein Buchwissen, das ich von A-Z auswendiglerne, als vielmehr eine reflektierte Grundhaltung, die von Wertschätzung und Respekt anderen gegenüber geprägt ist. Wie jedoch kann dies angemessen mit einer auch nachvollziehbaren Benotung messbarer Schulleistungen korrespondieren?

Pädagogisches Handeln begründen zu lernen, an Fallbeispielen mögliche Reaktions- und Handlungs-weisen pädagogischer Fachkräfte zu entwickeln und zu benennen oder in Rollenspielen und selbstge-stalteten Dialogen exemplarisch Position zu beziehen, gehört hier zum unverzichtbaren Methoden-repertoire unseres Unterrichts.

Vorurteilsbewusste Selbst- und Praxisreflexion der Lehrer_innen

Im Austausch mit den anderen Lehrkräften der Fachschulen wurde uns bewusst, dass in einer Ausbil-dung hin zu einer vorurteilsbewussten Pädagogik auch uns als Lehrenden der kritische Blick auf die eigene Biographie, auf unsere eigenen Sichtweisen, Vorurteile, Einschätzungen und Beurteilungen, die wieder etwas mit unserem sozialen Status und unserer gesellschaftlichen Position zu tun haben, nicht erspart bleibt.

In der Entwicklungswerkstatt haben wir hierzu eine Übung zu Privilegien durchgeführt , die verunsi-cherte: Wäre ich bereit, meine Privilegien als weiße, deutsche, gebildete, mittelschichtsorientierte Frau aufzugeben, wenn es z.B. um die Frage geht, welche Schule mein Sohn besuchen kann?

Wie wirken sich unsere Privilegien und unsere Dominanz im Unterricht aus? Wie kann es uns gelin-gen, dass analog zu den Kitas ein wertschätzender Umgang gegenüber allen Auszubildenden zum Standard wird, der jeden Schüler und jede Schülerin mit seiner Familienkultur und Einzigartigkeit wahrnimmt und seinen ganz individuellen Bedürfnissen gerecht wird? So wie ErzieherInnen die un-terschiedlichen Lebensverhältnisse und Lernvoraussetzungen von Kindern berücksichtigen müssen, ist es an uns, Unterrichtsinhalte auf die Lernsituationen der einzelnen SchülerInnen abzustimmen.

Aber nur wenn ich als Lehrkraft selber auch den Blick auf meine eigenen Vorurteile und Begrenzun-gen richte und mich um eine stete Selbstreflexion bemühe, kann ich diese Inhalte glaubhaft vermit-teln und vertreten. Das ist nicht immer einfach und kann – wie wir auch in den Diskussionen inner-halb der Fachschulkolleginnen und -kollegen gemerkt haben, durchaus emotional und kontrovers verlaufen, je mehr meine persönlichen Grundüberzeugungen hinterfragt und auf den Prüfstand ge-stellt werden. Als ein Beispiel möchte ich hier die Diskussion um Kopftuch muslimischer Schülerinnen nennen, die in einen durchaus engagiert-erhitzten Diskurs mündete.

In der Entwicklungswerkstatt haben wir die Zusammensetzung unserer SchülerInnen verglichen mit der Zusammensetzung im Lehrer_innenkollegium: Wir haben festgestellt, dass sich die Lebenssitua-tion der LehrerInnen und SchülerInnen stark unterscheidet. Wir haben uns mit Machtstrukturen in der Schule und im Unterricht auseinander gesetzt.

Wir haben uns Schritte zu Veränderungen überlegt, aber wir wissen, das man bei Veränderungen von Spielregeln das System und seine Wirkungsmacht mit bedenken muss: Schule ist und hat eine stren-ge Hierarchie. In die wir wiederum eingebunden sind.

Sich hier politisch zu positionieren geht nicht ohne persönliche Positionierung. Die Reflexionen in der Entwicklungswerkstatt machten für unser Handeln in der Fachschule ganz konkret, dass das Persönli-che politisch ist und das Politische persönlich!

Was kennzeichnet eine vorurteilsbewusste Fachschule?

Wir haben im Projekt KINDERWELTEN damit angefangen, Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung auf unsere Tätigkeit in den Fachschulen für Sozialpädagogik zu beziehen. Die Kriterien für die Inhalte und Form einer vorurteilsbewussten Fachschule müssen wir noch entwickeln – vielleicht in einem Folge-projekt?

Auf der persönlichen Ebene wurde bei uns und anderen Kolleg_innen jedenfalls ein Lernen angesto-ßen, das weitergehen wird. Einmal begonnen, ist es nicht mehr zu stoppen!