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Inklusion in Grundschulen – Erfahrungen aus dem Projekt Kinderwelten

Barbara Henkys:

Liebe Kolleg_innen aus den Projekteinrichtungen, liebe Gäste,

ich möchte Ihnen und euch die Entwicklungswerkstatt Grundschule vorstellen. Entwicklungswerkstätten haben das Projekt Kinderwelten in allen Phasen begleitet. Viele Praxisentwicklungen hatten ihren Ausgangspunkt in thematisch unterschiedlichen Entwicklungswerkstätten.

An die Entwicklungswerkstatt Grundschule sind wir nicht ohne Vorbehalte herangegangen. Als Vertreterinnen des Bereichs Jugendhilfe hatten wir es im Vorfeld mit verinnerlichten Unterlegenheitsgefühlen gegenüber der Schule zu tun. Wir waren also unmittelbar mit dem konfrontiert, was Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung thematisiert: Ungleiche Machtverhältnisse und wie sie sich in institutionellen Strukturen, in gesellschaftlichen Diskursen und in den Köpfen der Einzelnen spiegeln.

In der konkreten Kooperation dann mit den Kolleg_innen, den Lehrer_innen und Erzieher_innen der am Projekt beteiligten Grundschulen – gelang es uns gut, Vorurteile und Zuschreibungen gegenüber Schule zu erkennen und zu relativieren. Die Erfahrung zeigt eben immer wieder: In den Kontakt gehen hilft!

Im Projekt waren 8 Grundschulen aus 5 Bundesländern beteiligt. Die Entwicklungswerkstatt bestand aus vier dreitägigen Arbeitstreffen.

Es haben ungefähr zur Hälfte Lehrer_innen und Erzieher_innen an den Werkstatttreffen teilgenommen, deswegen spreche ich im Folgenden auch verallgemeinernd und kurz von Pädagog_innen.

Gegenstand der Werkstatt-Treffen waren:

  • die Einführung in Theorie und Praxis des Ansatzes der Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung,
  • Übungen zur Selbst- und Praxisreflexion,
  • die Präsentation und Auswertung von Erfahrungen und Erkenntnissen, die das Ergebnis von Arbeitsaufträgen zwischen den Treffen waren.

Während wir im Kita-Bereich die Implementierung von VBuE in 4 Handlungsfeldern bereits gründlich systematisiert und in unserem Qualitätshandbuch beschrieben haben, war es Aufgabe der Entwicklungswerkstatt, erste Indikatoren für eine Implementierung in der Grundschule zu entwickeln. Wir gingen davon aus, dass es in den Grundschulen Veränderungen in folgenden Bereichen geben müsste:

  • bei der Ausgestaltung der Klassen- und der Horträume und bei der Gestaltung der gemeinschaftlich genutzten Orte wie Eingangsbereich und Flur
  • bei den im Unterricht und im Hort verwendeten Materialien und bei der Themenwahl
  • bei der Gestaltung des Unterrichts und der Prozesse der Aushandlung und Entscheidungsfindung
  • und ins besondere bei der Schulkultur und der Art wie Beziehungen gestaltet und gepflegt werden

In allen diesen Bereichen wurde gearbeitet: die Kolleg_innen setzten sich mit den Zielen und Prinzipien der VBuE auseinander, erprobtes Neues und beleuchteten vor allem die bisherige Praxis aus einem anderen Blickwinkel.

  • Es gab Spurensuchen in Fluren und Räumen, die Pädagoginnen untersuchten die Aushänge und die dekorative Gestaltung daraufhin, ob sie die Kinder der Schule mit allen ihren Merkmalen widerspiegeln.
  • Es wurden Unterrichtsmaterialien entwickelt, die es den Kindern ermöglichten sich mit den verschiedenen Aspekten ihrer Identität zu beschäftigen und Wissen einzubringen, dass sie im familiären Rahmen erworben haben.
  • Die Pädagog_innen lenkten den Blick der Kinder auf die Aspekte sozialer Vielfalt und ganz neue Themen wurden besprochen.
  • Es wurden Projekte vorgestellt, in denen Kinder und Erwachsenen z.B. kritisch untersuchten, was Respekt ist und ob in der Schule Respekt gelebt wird.
  • Es gab Fallbesprechungen zu Ausgrenzungs- und Diskriminierungssituationen in der Klasse und auf dem Schulhof, und wir haben Interventionskonzepte besprochen, die stärker als bisher den schwächeren Kindern Schutz zusichern und die Regeln des Zusammenlebens verdeutlichen sollten.

Beispiele für all diese Aktivitäten haben Sie bestimmt in der Ausstellung zum Projekt schon entdeckt.

Die Auswertung der vorurteilsbewussten Aktivitäten im Unterricht oder im Schulhort zeigte:

Mädchen und Jungen setzten sich aktiv mit ihren unterschiedlichen Identitätsmerkmalen im Bereich Aussehen, Sprache und Familie auseinander. Sie beteiligten sich intensiv und lebhaft.

Was wichtig war: Das Thema ließ sich auf unterschiedlichste Art und Weise mit Lehrplaninhalten verknüpfen. Vielfach waren schon ganz ähnliche Methoden in Gebrauch, die mit dem Blick der Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung nun besonders aufmerksam genutzt und im Detail geschärft wurden.

Für alle Beteiligten war es spannend, über Themen ins Gespräch zu kommen, die sonst eher ausgespart und als heikel empfunden wurden. Es zeigte sich z.B., dass ein Teil der Kinder über genaue Kenntnisse von gleichgeschlechtlichen Lebensweisen verfügte und diese auch gerne zur Verfügung stellte. Andere Kinder waren dadurch irritiert, dennoch blieb die lebhafte Diskussion respektvoll, weil das Ausgangsmaterial die Wertschätzung von Unterschieden und die Gemeinsamkeiten betonte.

Was besonders auffiel und für alle wichtig war: Vor allem die Kinder, die sonst eher im Hintergrund standen, erkannten bei diesen Aktivitäten ihre Chance und wurden aktiv.

Schwieriger war es, erfolgreich bei Ausgrenzungen, Hänseleien und Diskriminierung zu intervenieren. Es wurde deutlich, wie wichtig eine klare Positionierung der Erwachsenen ist, die den Kindern eindeutige Signale gibt.

Wir haben Situationen besprochen, in denen die Pädagoginnen sich hilflos fühlten und erlebten, dass ihre Bearbeitung von Konflikten nicht zur Stärkung der Schwächeren führte. Eine Solidarisierung der stärkeren Schüler mit den schwächeren zu erreichen erschien zum Teil undenkbar. Es wurde deutlich, wie sehr die Mechanismen von Bewertung und Auslese, die auf der Seite der SchülerInnen mit Erfahrungen von Beschämung, Demotivierung, Entmutigung verbunden sind, dies verhinderten.

Dort wo die Pädagog_innen einer Schule gemeinsam darauf hinarbeitet haben, Respekt und Solidarität zu fördern und dies auf vielen Ebenen in der Schule durchdekliniert haben, hatten es die Kolleg_innen in solchen Situationen viel leichter und konnten von vielen erfolgreichen Interventionen berichten.

Die Entwicklung der Schulkultur war folgerichtig ein Thema zu dem es einen regen Praxisaustausch gab. Es gab AHA-Effekte, wie z.B. das Erkennen der Sinnhaftigkeit von eher sozialpädagogisch motivierten Konzepten im eigenen Schulprofil. Mit der Auseinandersetzung um die Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung wurde der rote Faden in diesen Konzepten sicht- und verstehbar.

Wie sich die vorhandene Profilentwicklung mit dem Ansatz der vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung verbinden lässt zeigt das Beispiel, dass Angeli Kuipers jetzt vorstellt:

Angeli Kuipers:

Ich bin Lehrerin an der Ganztagsgrundschule am Buntentorsteinweg in Bremen.

Ich habe an den Entwicklungswerkstätten in Berlin teilgenommen und finde, dass die Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung in jeder guten Schule ihren Platz haben sollte. Darum möchte ich exemplarisch an meiner Schule darstellen, wie die Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung (VBuE) in die Schulentwicklung einfließen kann.

In meiner Schule ist von LehrerInnen und sozialpädagogischen Fachkräften unter Beteiligung von Eltern und Kindern ein Leitbild formuliert worden, das als Grundlage des pädagogischen Handels an unserer Schule dient. Ich finde, es kann durch die Ziele der VBuE gut ergänzt werden.

Durch meine Arbeit in den Entwicklungswerkstätten gibt es schon einige „kleine“ Veränderungen in unserer Schule.

  • Man liest zum Beispiel im Eingangsbereich „Herzlich Willkommen in unserer Schule“ in allen Sprachen unserer Schule.
  • In meiner Klasse gibt es natürlich eine Familienwand,
  • Vor der Mensa hängen von Kindern gemalte Selbstportraits,
  • es gibt in meiner Klasse Spielenachmittage mit Eltern und Kindern, hier werden Lieblingsspiele ausprobiert und anderen vorgestellt.
  • Die Präsentation „Wir zeigen dir unsere Stadt „Bremen“ entstand vor einigen Wochen aus der Erkenntnis, dass sich viele Kindern mit einem anderen kulturellen Hintergrund in unserer Stadt gar nicht auskennen. Ich habe einige Sehenswürdigkeiten von Bremen fotografiert, und Kinder haben in ihrer Muttersprache und auf Deutsch die Bilder kommentiert. Die Eltern haben uns dabei sehr unterstützt und fleißig mit den Kindern (1.2.Klasse) geübt. Diese Präsentation ist auf den PCs in allen Klassen und die Kinder können sie sich jederzeit angucken. Es hat allen viel Spaß gemacht und ich bin sicher, beim nächsten Stadtbesuch wird der „Roland“ wahrgenommen.

Diese hier aufgeführten Schwerpunkte unserer pädagogischen Arbeit begünstigen die Umsetzung der VBuE in der Grundschule.

Um den Schwerpunkt noch ein Stück in Richtung VBuE zu verschieben, wäre ein symbolischer „Kinderwelten-Koffer“ in jeder Klasse wichtig, mit Vorschlägen für Materialien in unterschiedlichen Sprachen (wie z.B. die Bremen Fotos) oder „Ich Projekte“ mit vielfältigen Aspekten.

Die Sätze 3 und 4 unseres Leitbildes sind für mich logisch zu ergänzen durch das Ziel 2 der VBuE.

In meiner Klasse haben im letzten Schuljahr einige Bilderbücher aus den Vorschlägen von „Kinderwelten“ Einzug gehalten, z.B. „König und König“ – eine besondere Liebe zwischen zwei Prinzen, oder „Prinzessin Pfiffigunde“, die Prinzessin, die lieber allein leben wollte. Diese Arbeit hat zu vielen interessanten Kommentaren der Kinder geführt.

Etwas, was schon längst Ritual ist, ist das „Internationale Frühstücksbüffet“ einmal im Jahr. Hier geht es darum, wie in den Familien gefrühstückt wird, es werden Gemeinsamkeiten und auch kulturelle Unterschiede dargestellt. In diesem Schuljahr haben die Eltern Rezepte aufgeschrieben und es ist ein tolles buntes Frühstücksbuch entstanden.

Damit Vielfältigkeit, Gemeinsames und Unterschiedliches noch intensiver thematisiert werden können, wäre es schön, in den „Kinderwelten-Koffer“ noch das Familienposter, das Hüteposter und das Familienpuzzle zu packen.

Dieses Poster hängt in meiner Klasse und gibt immer mal wieder Anlass zu Kommentaren, wobei sich einige Kinder als Experten für besondere Familienformen, wie z.B. das Männerpaar mit Kind, erweisen und einige strikt ablehnen, dass es so etwas gibt. Aus den Gesprächen darüber entwickelt sich Respekt von unterschiedlichen Lebensformen.

Fehler und Konflikte als Lernanlässe zu nutzen bedeutet auch, kritisch zu werden gegenüber Einseitigkeiten, Vorurteilen und Diskriminierungen.

Unsere Schulregeln sind von Kindern des Kinderparlaments erarbeitet worden. Einige Regeln wurden heftig diskutiert und immer wieder verändert.

In unserem Kinderparlament beschäftigen sich die Kinder in fast jeder Sitzung mit Konflikten, die oft aus Diskriminierung und Vorurteilen entstehen.

Das Kinderparlament als Sprachrohr der Kinder ist gut, noch besser wäre ein Klassenrat in jeder Klasse.

Die Ausbildung von Kindern als Streitschlichter (Friedensengel) ist ein ganz persönlicher Wunsch von mir.

Die Arbeit mit den Persona Dolls wäre gerade in den Lerngruppen 1-2 eine Möglichkeit das Ziel 3 umzusetzen.

Barbara Henkys:

Was brauchen Pädagog_innen, um die vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung in der Schule umsetzen zu können?

Diese Frage stellten wir uns zum Abschluss der Entwicklungswerkstatt und ich möchte Ihnen und euch die Thesen der Teilnehmer_innen vorstellen:

Das Verstehen von Widersprüchen im eigenen Handlungsfeld ist gleichzeitig die Voraussetzung, um Handlungsmöglichkeiten anders zu nutzen. So wurde deutlich, dass ein unproduktiver „Ausweg“ aus dem Dilemma zwischen dem Respektieren individueller Lernwege der SchülerInnen und dem Bewerten ihrer Leistungen auf einer mehr oder weniger willkürlich gesetzten Normskala darin liegt, die Erwartungen an die Leistungs- und Lernfähigkeit von Kindern zu reduzieren. (Aufrüttelnde Anregung Scholz: In den ersten Schulwochen entstehend die Urteile über gute/schlechte SchülerInnen, an denen sich das weitere Unterstützungshandeln von LehrerInnen orientiert.) Es wurde deutlich, dass PädagogInnen auf diese Weise der ins selektive Schulsystem eingebauten Bildungsbenachteiligung von Kindern „zuarbeiten“ – auch wenn sie selbst etwas ganz anderes wollen. Bewusste Entscheidungen für Inklusion und Bildungsgerechtigkeit treffen, damit sich nicht „unter der Hand“ etwas durchsetzt, was den eigenen Zielen entgegensteht, heißt an dieser Stelle, Kindern mehr zuzutrauen, davon auszugehen, dass alle lernen können. Es heißt auch, nicht die Kinder selbst zum Problem zu erklären, sondern die unzureichenden Bedingungen zu problematisieren.