Louise Derman-Sparks (Mitbegründerin des Anti-Bias Approach in den USA, Prof. em. Pacific Oaks College, Pasadena/ California)

“Sei dir der Gegenwart bewusst, die du gestaltest,
es sollte die Zukunft sein, die du willst.”
(Alice Walker, 1989)

Begrüßung

Ich fühle mich sehr geehrt und freue mich, heute bei Ihnen sein zu dürfen. In all den Jahren des fachlichen Austauschs mit den Kolleginnen von KINDERWELTEN zur Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung habe ich mindestens so viel von ihnen gelernt wie sie von mir. In der Tat habe ich hier phantastische Arbeit gesehen. Das war für mich als jüdische Frau ganz besonders bewegend und inspirierend.

Bevor ich fortfahre, möchte ich ein paar Anmerkungen zu den verwendeten Fachbegriffen machen. Ich verwende den Begriff „Anti-Bias Education“, der das umfasst, was KINDERWELTEN als „Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung“ bezeichnet. In den Vereinigten Staaten wird inzwischen auch der Begriff der „social justice education“ – ‚Bildung und Erziehung für soziale Gerechtigkeit’ verwendet, um die diversitätsbewussten Ansätze zu bezeichnen, deren Arbeit einen Schwerpunkt auf Ungleichheit und Equity setzt. Ich werde alle drei Begriffe benutzen.

Ein Wort zum Begriff “Inklusion”: In den USA wird der Begriff Inklusion meistens in einem engen Sinne für die Erziehung von Kindern mit Beeinträchtigung oder Behinderungen gebraucht. Hilfreicher ist, wie ich finde, die Verwendung des Begriffs der Inklusion in einem umfassenderen Verständnis, das alle Kinder einbezieht. Das ist die Definition von Inklusion, wie sie dem Anti-Bias Ansatz bzw. dem Ansatz vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung zugrunde liegt.

Kinder entwickeln ihre verschiedenen sozialen Identitäten als Gesamtheit. Im Kindergartenalter beginnen Kinder, ihre Ideen und Gefühle über ihre eigene Identität als auch die Identität anderer zu entwickeln, in Bezug auf Hautfarbe , Ethnizität, körperliche und geistige Fähigkeiten, sozioökonomische Zugehörigkeit und Familienstrukturen. Im Alter von fünf bis acht Jahren erweitern und festigen Kinder diese Identitäten und Haltungen gegenüber anderen. Die Wege, die sie bei der Entwicklung ihrer sozialen Identitäten gehen, ähneln sich. Ich stelle mir die Eigengesetzlichkeit ihrer Entwicklungsverläufe gerne als ein Kaleidoskop vor. Die Grundelemente sind die gleichen, nämlich die Glasstücke im Inneren des Kaleidoskops. Bei jeder Bewegung des Kaleidoskops ergibt sich jedoch eine andere Anordnung, ein neues Muster. So ist es auch bei der Entwicklung von Identitäten und Haltungen gegenüber Anderen, wie sie Kinder im Einzelnen ausbilden: Die grundlegenden Bestandteile haben sie gemeinsam, die sich ergebenden Muster sind unterschiedlich.

In den USA, und wie ich verstehe, auch in Deutschland, hat sich der pädagogische Diskurs über Fragen von Bildung und Erziehung bedauerlicherweise so entwickelt, dass die Beschäftigung mit Aspekten von Vielfalt getrennt voneinander erfolgt. So kann es geschehen, dass sich Pädagog_innen, die Inklusion in dem genannten engen Sinne vertreten, ausschließlich mit dem Aspekt Behinderung/ Beeinträchtigung beschäftigen und andere bedeutsamen Vielfaltsaspekten wie Familienkultur, sozioökonomische Lage und Geschlecht nicht beachten. Oder dass Pädagog_innen, die sich für Genderbewusstheit und Sexismus interessieren, andere Aspekte sozialer Diversität ausblenden. Oder dass Erzieher_innen multikulturelle Ansätze so verstehen, dass sie ausschließlich die unterschiedlichen Familienkulturen thematisieren und Fragen um Behinderungen/ Beeinträchtigungen oder Gender/ Sexismus ausklammern. Von ihrem Anspruch her muss pädagogische Arbeit nach dem Anti-Bias Ansatz und nach dem Ansatz Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung alle Aspekte sozialer Vielfalt berücksichtigen, mit denen sich Kinder auf dem Weg zur Entwicklung ihrer sozialen Identitäten und Haltungen gegenüber Anderen beschäftigen.

Als ich darüber nachgedacht habe, was ich Ihnen heute sagen möchte, ist mir ein Zitat von Alice Walker, einer von mir sehr geschätzten afroamerikanischen Autorin, durch den Kopf gegangen: „Be aware of the present you are constructing. It should be the future you want.“ – „Sei dir der Gegenwart bewusst, die du gestaltest: Sie sollte die Zukunft sein, die du willst.“

Dieser Gedanke bildet das Herzstück der Anti-Bias Arbeit. In der Absicht, ihn zu vertiefen, werde ich in meinem Vortrag drei Themen behandeln. Im ersten Teil geht es darum, wie wir unsere Zukunftsvisionen von Gesellschaft mit Anti-Bias Arbeit verbinden können. Im zweiten Teil erläutere ich die Ziele und pädagogischen Prinzipien der Anti-Bias Arbeit/ der Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung . Im dritten Teil lege ich dar, was wir meines Erachtens dafür tun müssen, um pädagogische Arbeit für soziale Gerechtigkeit voran zu treiben. Dabei beziehe ich mich auf Verhältnisse in den USA, denn das ist der Kontext, aus dem meine Erfahrungen stammen. Ich vertraue darauf, dass Sie sie auf Ihre Erfahrungen im hiesigen Kontext übertragen.

1. Gesellschaftliche Zukunftsvisionen und Anti-Bias Pädagogik

Anti-Bias Arbeit ist Teil der umfassenderen Bewegungen für soziale Gerechtigkeit, deren Anliegen es ist, alle institutionellen und individuellen Formen von Vorurteilen und Diskriminierung zu beenden. Ihre Ursprünge sind fast genauso alt wie die Geschichte der USA selbst. In gewisser Weise begann auch die Bildung und Erziehung für soziale Gerechtigkeit sehr früh. Denken Sie zum Beispiel an die versklavten Afroamerikaner_innen im amerikanischen Süden, die heimlich sich selbst und ihren Kindern das Lesen beibrachten. Lesenkönnen war Afroamerikaner_innen verboten und wurde schwer bestraft, wenn es entdeckt wurde. Im 20. und 21. Jahrhundert setzen sich Social Justice-Bewegungen für Menschenrechte und Bürgerrechte von People of Color (Sie benutzen hier den Begriff der ethnischen Minderheiten) ein, von Frauen, von Menschen mit Beeinträchtigungen, von schwulen/ lesbischen/ transgender Menschen, von Menschen, die in Armut leben, von Immigrant_innen. Bildung und Erziehung für soziale Gerechtigkeit entspringt diesen Bewegungen und ist gleichzeitig ein Teil davon. Soziale Bewegungen haben pädagogische Ansätze hervorgebracht, die Kulturen in ihren Stärken wahrnehmen und wertschätzen, auch wenn sie nicht der Dominanzkultur angehören und üblicherweise als minderwertig betrachtet werden. Es brauchte die Anstrengungen tausender Aktivist_innen in der Bewegung für die Rechte von Menschen mit Beeinträchtigung, um unser nationales Gesetz “Individuals with Disabilities Education Act” zu erwirken, welches einfordert, dass alle Kinder mit Beeinträchtigungen angemessene Bildung erfahren und zwar in einer Umwelt, die „am wenigsten restriktiv“ ist. Das bedeutet, dass diese Kinder die Möglichkeit erhalten müssen, in inklusive Programme aufgenommen zu werden und nicht automatisch in separaten sonderpädagogischen Programmen untergebracht werden dürfen.

Das Herz der Anti-Bias Arbeit ist die Vision einer Welt, in der es allen Kindern möglich ist, sich zu entfalten und in der jedes Kind seine speziellen Fähigkeiten und Begabungen ausbilden kann. In dieser Welt:

  • haben alle Familien die Ressourcen, die sie benötigen, um ihren Kindern ein gutes Aufwachsen zu ermöglichen,
  • wohnen alle Kinder und Familien in sicheren, friedlichen, gesunden und komfortablen Verhältnissen und leben frei von Diskriminierung und Vorurteilen,
  • können Kinder und Erwachsene über Unterschiede hinweg respektvoll und problemlos zusammen leben, lernen und arbeiten und handeln in Zugehörigkeit zu ihrer Umgebung,
  • erfahren alle Kinder die Rechte, wie sie in der UN Kinderrechtskonvention (1989) festgehalten sind. Unter vielen anderen Rechten haben alle Kinder:
    § 2: das Recht auf staatlichen Schutz vor jeglicher Form von Diskriminierung unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht, Religion, körperliche oder geistige Beeinträchtigung oder sozioökonomischem Status,
    § 29: das Recht auf Bildung, die die Persönlichkeit und die Begabungen jedes einzelnen Kindes voll zur Entfaltung bringt, als auch eine Bildung, durch die Respekt vor den Rechten und Werten anderer Menschen vermittelt wird wie auch ihrer eigenen Kultur und der Kulturen anderer,
    § 30: das Recht, die Sprache, Religion und Kultur ihrer Familien zu erlernen und auszuleben, ungeachtet dessen, ob sie von der Mehrheit der Menschen in dem Land geteilt wird oder nicht,
    § 23: das Recht bei physischen oder psychischen Beeinträchtigung diejenige Betreuung und Unterstützung zu erhalten, die ihnen dabei hilft, ein vollwertiges und unabhängiges Leben zu führen.

Wie in vielen anderen Gesellschaften haben in den USA viel zu viele Kinder keinen gleichwertigen Zugang zu all diesen grundlegenden Menschenrechten und Ressourcen, auf die sie Anspruch haben. Tief verwurzelt in der Geschichte hat gesellschaftliche Ungleichheit nach wie vor einen großen Einfluss darauf, wie das Leben von Kindern verläuft. Dennoch glaube ich fest daran, dass Menschen in gemeinsamer Anstrengung sowohl ihre Gesellschaft verändern können als auch das, was sie allen ihren Kindern anbietet. Anti-Bias Arbeit und Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung können zu einer solchen positiven Veränderung beitragen. Ich erachte die Ansätze als Teilstück einer mehrdimensionalen Strategie, Gesellschaften zu schaffen, in denen die Bedürfnisse aller Kinder erfüllt werden. Unsere Kinder brauchen Kompetenzen, um in ihrem Alltagsleben mit den komplexen Angelegenheiten rund um Identität, Vielfalt, um Vorurteile und Macht so zurecht zu kommen, dass sie lernen und sich entfalten können, ganz gleich, welchen Lebensweg sie gehen. Die entsprechende Bildung und Erziehung beginnt in ihrer Lernumgebung.

Die Erklärungen pädagogischer Fachkräfte, was sie zur Anti-Bias Arbeit gebracht hat, spiegeln diese Zuversicht, die in der Anti-Bias Arbeit bzw. Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung angelegt ist:

Mary Pat Martin, Lehrerin einer Fachhochschule:
“Der Anti-Bias Ansatz hat all das in meinem Leben in Worte gefasst, was ich mit Blick auf Gleichwürdigkeit und Gerechtigkeit immer als richtig erachtete. Er gab mir die Werkzeuge in die Hand, um das in die Praxis zu bringen, was ich in der frühkindlichen Bildung und Erziehung stets als den geeigneten Weg für mich erachtet habe.”

Brian Silveira, Erzieherin:
„Das Anti-Bias Curriculum hat meinen Blick auf die kindliche Entwicklung und auf die Welt verändert und ich wäre sicherlich nicht so aktiv, wenn ich ihm nicht begegnet wäre. Wir sind dabei, eine bessere Welt zu schaffen.“

2. Anti-Bias Pädagogik: Ziele und pädagogische Prinzipien

Anti-Bias Pädagogik beruht auf folgenden Zielen und Prinzipien, die in den unter-schiedlichen Einrichtungen ihren mit unterschiedlichen pädagogischen Konzepten verbindlich sind.

Ziele

Die Anti-Bias Pädagogik verfolgt vier Kernziele. Die Ziele bauen aufeinander auf, jedes ist verknüpft mit den drei andern und alle vier sind wesentlich für eine wirksame Anti-Bias Arbeit. Um sich vorzustellen, wie die vier Ziele miteinander verbunden sind, hatte die Kita Anne Frank aus Jena die wunderbare Idee, die vier Ziele als vier ineinander greifende Zahnräder darzustellen: Jedes Zahnrad steht für ein Ziel und wenn man eins der Zahnräder bewegt, bewegen sich die anderen ebenfalls. Ich habe diese Konstruktion bei meinem letzten Besuch in Berlin gesehen und danke den Erzieher_innen der Anne Frank-Kita dafür, dass sie mir erlaubt haben, eine Abbildung ihres Bildes in meinem überarbeiteten Buch zur Anti-Bias Arbeit zu verwenden.

Ziel 1: Jedes Kind drückt Selbstbewusstsein und Zutrauen in sich selbst aus, es zeigt Stolz auf seine Familie und positive Identifikationen mit seinen Bezugsgruppen.

Dieses Ziel beruht auf der Annahme, dass Menschen eine persönliche Identität als auch viele soziale Identitäten haben – die alle zu unserem Selbstbild beitragen (Cross 1991). Unsere persönliche Identität beinhaltet Aspekte wie unseren Namen, unsere je eigene Familie, unser Alter, unseren Platz innerhalb der Familie, unseren Charakter, unsere Talente und Interessen. Diese Merkmale geben uns unser Bewusstsein von Individualität. Im Unterschied dazu beziehen sich unsere sozialen Identitäten auf signifikante Gruppen-Kategorisierungen, die uns von der Gesellschaft zugewiesen werden, mit denen wir aufwachsen und leben und die wir mit vielen anderen teilen. Diese umfassen Geschlecht, ‘Rasse’, Ethnizität, Religion, sozio-ökonomischen Status, körperliche Fähigkeiten bzw. Beeinträchtigungen. Über unsere sozialen Identitäten erleben wir die ins gesellschaftliche System eingelassenen Privilegien und Benachteiligungen.

Ziel 1 ist der Ausgangspunkt für alle Kinder. Indem Kinder ein starkes, positives Bewusstsein von ihrer Ich-Identität und von ihren sozialen Zugehörigkeiten entwickeln, eignen sie sich auch die Grundlagen dafür an, um mit anderen ohne Vorurteile zu interagieren. Darüber hinaus spielt ein starkes und positives Bewusstsein von individueller und sozialer Zugehörigkeit auch eine wichtige Rolle für die erfolgreiche Ausbildung kognitiver und akademischer Fähigkeiten der Kinder.

Ziel 2: Jedes Kind drückt Freude und Wohlbehagen gegenüber Unterschieden zwischen Menschen aus, verwendet eine sachlich korrekte Sprache und pflegt innige und fürsorgliche Beziehungen zu anderen Menschen. Dieses Ziel erfordert eine Balance zwischen der Erkundung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Menschen. Dabei geht es niemals um ein “Entweder -Oder”, denn Menschen sind gleichzeitig ähnlich wie andere und anders als sie. Wir teilen ähnliche biologische Merkmale und Bedürfnisse (wie z. B. das Bedürfnis nach Nahrung, Schutz und Liebe, und die Gemeinsamkeiten von Sprache, Familien und Gefühlen) und gleichzeitig leben wir diese auf sehr verschiedene Weise aus. Am erfolgreichsten ist, mit den Kindern an dem anzusetzen, was sie bereits kennen und erlebt haben. Aus diesem Grund ist es wichtig, die vielen Formen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu erforschen, die innerhalb der Kindergruppe präsent ist, selbst wenn die Kinder ähnliche ethnische, kulturelle, sozioökonomische und familiäre Hintergründe haben. Von der Vielfalt innerhalb der Kindergruppe ausgehend beschäftigen sie sich mit Unterschieden in ihrer weiteren Lernumgebung.

Manche Menschen sind unsicher, ob sie Kinder dazu ermutigen sollten, Unterschiede zwischen Menschen ‘festzustellen’ und mehr darüber zu erfahren – weil sie Sorge haben, dass ein Lernen über Unterschiede Vorurteile erst hervorbringt. Das ist gut gemeint, beruht aber auf einem falsch verstandenen Verständnis über die Ursachen von einseitigen Vorstellungen. Kinder lernen Vorurteile aus Vorurteilen – und nicht, indem sie mehr über soziale Vielfalt erfahren.

Ziel 3: Jedes Kind erkennt unfaire Äußerungen und Handlungen immer besser, verfügt zunehmend über Worte, um sie zu beschreiben und versteht, dass sie verletzen.

Kinder können kein starkes Selbstkonzept und auch keinen Respekt für Andere entwickeln, wenn sie nicht wissen, wie sie verletzende, stereotype und unkorrekte Botschaften oder Handlungen, die gegen sie oder gegen Andere gerichtet sind, erkennen und wie sie ihnen widerstehen können. Die Fähigkeit, kritisch zu denken, stärkt Kinder in ihrem Selbstbild und hilft ihnen, in den Beziehungen zu anderen fürsorglich zu sein. Sind Kinder in der Lage, kritisch über die Welt nachzudenken, so hilft ihnen das auch bei Anforderungen in der Schule und im späteren Leben. Die Arbeit an diesem Ziel bereitet die Kinder auch für die Arbeit an Ziel 4 vor

Ziel 4: Jedes Kind zeigt Handlungsfähigkeit, um sich alleine oder mit anderen gegen Vorurteile und /oder diskriminierende Handlungen zur Wehr zu setzen.

Der vierte Baustein der Anti-Bias Pädagogik zielt auf die Unterstützung von Kindern, damit sie Handlungsstrategien erwerben, wenn

  • sich ein anderes Kind ihnen gegenüber auf eine einseitige, vorurteilshafte Weise verhält
  • sich ein Kind gegenüber einem anderen Kind auf eine einseitige, vorurteilshafte Weise verhält
  • sich unfaire Situationen in der Gruppe oder Klasse ereignen und/oder
  • unfaire Situationen im direkten sozialen Nahraum der Kinder geschehen.

Werden Kinder im Ziel bestärkt, so stärkt es sie für die anderen Ziele: Wenn ein Kind, das Opfer von Vorurteilen und Diskriminierung wird, sich dagegen zur Wehr setzt, macht es die Erfahrung von Empowerment und sein Selbstwertgefühl wächst. Wenn ein Kind sich für ein anderes Kind einsetzt, entwickelt es seine Fähigkeit zur Empathie und Perspektivenübernahme (Ziel 2). Wenn Kinder für sich selbst oder für Andere etwas unternehmen, so machen sie die Erfahrung, handelnde Subjekte und nicht Objekte der Gesellschaft zu sein. Die Aktivitäten müssen etwas aufgreifen, was Kinder unmittelbar angeht und auf das sie sich beziehen können. Hier ist ein Beispiel einer Aktivität, die zu Ziel 3 und 4 arbeitet, und das in einer öffentlichen Schule stattgefunden hat, in einer integrativen Vorschule (der Lehrer ist mein Ehemann Bill Sparks, der auch heute hier ist).

Zu der damaligen Zeit hatte die Schule keine Plätze, die wir als “Behindertenparkplätze” bezeichnen. Aus diesem Grund hatten manche Eltern, die eine Beeinträchtigung hatten, große Schwierigkeiten, wenn sie die Schule besuchten. Bill entschied sich dafür, diese Situation mit den Kindern aufzugreifen. Die Kinder befanden, dass das nicht fair sei. Also machte der Lehrer eine Stunde über “Behinderten”-Parkplätze. Die Kinder schauten sich Fotos von Schildern für Behindertenparkplätze und Beispiele anderer entsprechender Parkplätze an. Sie entschieden dann, einen eigenen Parkplatz für beeinträchtigte Menschen zu schaffen. Sie beobachteten, wer auf dem Parkplatz parkte und fanden heraus, dass manche Lehrer den Parkplatz ungerechtfertigterweise nutzten. In der Diskussion darüber entschieden sie sich, “Parktickets” für Autos zu machen, die die Behindertenparkplätze nicht nutzen sollten. Bill ermutigte die Kinder dazu, ihre eigenen Ideen darüber zu entwickeln, was auf dem Ticket stehen sollte. Mein Lieblingsspruch eines Kindes ist “Monster says, move on back” – „Monster sagt, geh weg von hier!“

Die vier Ziele der Anti-Bias Pädagogik gelten für alle Kinder und sie sind zum Nutzen aller Kinder, sowohl der Kinder, die aufgrund einer oder mehrerer sozialer Zugehörigkeiten Vorteile haben, als auch der Kinder, die Benachteiligungen erfahren. Kinder der Dominanzkultur eines Landes sollten z.B. Identitäten ausbilden, die nicht auf der Vorstellung von Überlegenheit basieren oder auf der Furcht vor Menschen, deren Hintergründe sich von ihren eigenen unterscheiden. Sie brauchen Kompetenzen, um mit unterschiedlichen Menschen fair zusammen arbeiten zu können. In ähnlicher Weise benötigen Kinder ohne körperliche oder geistige Beeinträchtigung Fähigkeiten, um sich respektvoll und effektiv mit Kindern zu verständigen, die Beeinträchtigungen haben. Als Erwachsene sollten sie wissen, wie sie sich für Maßnahmen im öffentlichen Raum einsetzen, die es Menschen mit Beeinträchtigungen ermöglichen, so unabhängig wie möglich zu leben.

Anti-Bias Ziele in die Praxis umsetzen: Pädagogische Prinzipien

Anti-Bias Arbeit ist immer absichtsvoll, proaktiv und Teil des Alltagslebens in der Gruppe/ Klasse.

Kontakt unter Kindern verschiedener Hintergründe und verschiedener Fähigkeiten reicht nicht aus, um eine inklusive, vorurteilsbewusste Lernumgebung zu schaffen. Genauso wenig ist es genug, lediglich oberflächliche Toleranz und Höflichkeit zu vermitteln (z.B. “sei nett“, “alle sollen miteinander spielen“, “Wir lieben alle Kinder”, „Wir werden schon miteinander auskommen”). Das Herstellen einer inklusiven Lernumgebung erfordert bewusste Entscheidungen und Strategien der Pädagog_innen.

In einer inklusiven, vorurteilsbewussten Lernumgebung werden alle Kinder in gleichwürdiger Weise gefördert und jeder/ jede ist verantwortlich für das Lernen und das Wohlbefinden jedes/ jeder anderen. Alle Kinder haben wertschätzende Erzieher_innen bzw. Lehrer_innen, die sicherstellen, dass alle Kinder in ihrer Lernumgebung sichtbar sind. Alle Fachkräfte wissen, wie sie Fragen von Kindern ermutigen, wie sie darauf antworten, wie sie sachlich richtige Informationen anbieten, und wie sie Kinder dabei unterstützen, ihre Gefühle zu erkunden. Alle Fachkräfte wissen, wie sie die Stärken, Fähigkeiten und das Wissen jedes einzelnen Kindes fördern können.

Anti-Bias Arbeit ist am wirkungsvollsten, wenn sie im Kontext kritischer Pädagogik implementiert wird.

Für diejenigen unter Ihnen, die mit KINDERWELTEN zusammenarbeiten, ist das keine neue Idee. Wir benutzen einige andere Begriffe in den USA, meinen jedoch im Wesentlichen die gleichen Ideen. Kritische Pädagogik umfasst die folgenden Aspekte:

  • Pädagogische Strategien und Aktivitäten berücksichtigen die Familienkulturen und Lebenswirklichkeiten von Kindern.

Während die vier Anti-Bias Ziele einen Referenzrahmen für alle Kinder aufspannen, variieren die spezifischen Aufgaben. Die Aufgaben berücksichtigen den Kontext und die Besonderheiten des Lebens jedes einzelnen Kindes. Manche Kinder benötigen Unterstützung dabei, sozialen Botschaften von Minderwertigkeit zu widerstehen, bezogen auf Hautfarbe, Ethnizität, Kultur, soziökonomischen Status oder körperliche Fähigkeiten. Manche Kinder benötigen Begleitung, um ein positives Selbstkonzept zu entwickeln, ohne die soziale Botschaft zu verinnerlichen, sie seien aufgrund ihrer sozialen Zugehörigkeiten anderen überlegen. Vorurteilsbewusste pädagogische Fachkräfte berücksichtigen die spezifischen kulturellen Hintergründe der Kinder und Familien, mit denen sie zu tun haben. Das erfordert, die Ziele der Anti-Bias Arbeit mit den Werten und der Geschichte der Familienkultur des Kindes zu verbinden. Es bedeutet auch, die Herausforderungen zu verstehen, die sich bikulturell aufwachsenden Kindern stellen und zu wissen, wie sie befähigt werden können, sowohl in der kulturellen Community ihrer eigenen Familie zu leben als auch in der weiter gefassten Gesellschaft ihres Landes.

  • Kritische Pädagog_innen nutzen eine ko-konstruktive Verbindung von Curriculum, den Kindern, Familien und ihrem professionellen Wissen

Um das zu tun sind mehrere Faktoren nötig:

Erstens: Wir müssen unser alltägliches Curriculum auf das gründen, was wir darüber wissen, wie Kinder ihre Ideen und Gefühle konstruieren – speziell auch darüber, was sie in Bezug auf Themen von Identität und Vielfalt denken und wie sie diesbezüglich handeln. Informationen zu diesen spezifischen Themen zu sammeln und ihre Bedeutung zu analysieren, ist der erste Schritt für die Planung des pädagogischen Programms. Fachkräfte können hier Strategien des aktiven Zuhörens und der Beobachtung einsetzen, sie können Kinderbücher und Persona Doll Geschichten nutzen, um Gespräche mit einzelnen Kindern oder kleinen Gruppen von Kindern zu initiieren.

Zweitens: Pädagogische Fachkräfte müssen sich selbst kennen. Wenn wir mit Kindern, Familien und Kollegen an den vier Anti-Bias Zielen arbeiten, lassen auch wir uns auf eine Anti-Bias Reise ein. Uns selbst besser zu verstehen, ist einerseits eine Voraussetzung für diese Arbeit, andererseits eine Belohnung für uns als vorurteils-bewusste Pädagog_innen.

Drittens: Kritische Pädagogik beruht auf starken Beziehungen des pädagogischen Teams untereinander als auch zwischen dem Team und den Familien. Das fordert Fachkräfte auf, kritisch die Machtbeziehungen zu beleuchten, die zwischen ihnen und den Familien und auch innerhalb ihres Teams wirken. Auch wenn Verantwortlichkeiten der Beteiligten für die Kinder unterschiedlich sind, müssen doch alle als Mitglieder der Lerngemeinschaft behandelt werden, die alle einen Beitrag leisten. Viele Fachkräfte in den USA finden es schwieriger, die Themen wie Vielfalt, Ungerechtigkeit und Gleichwürdigkeit mit anderen Erwachsenen anzusprechen als mit Kindern. Vielleicht ist es so, dass sie an ihrer Machtstellung gegenüber Familien festhalten wollen, indem sie das traditionelle Modell fortführen, wonach Professionelle ihren Klienten überlegen sind. Dazu steht im Widerspruch, dass manche Fachkräfte Angst davor haben, wie Erwachsene auf Anti-Bias-Themen reagieren könnten. Sie befürchten Unannehmlichkeiten. Oder sie haben Angst, dass die Familien oder Kolleg_innen verärgert oder ablehnend sein werden. Manche befürchten sogar, dass sie ihren Arbeitsplatz verlieren. Wenn wir Anti-Bias Arbeit praktizieren, ist es eine unserer vordringlichen Aufgaben, uns gegenseitig zu unterstützen, indem wir respektvoll miteinander umgehen und Macht und Verantwortung teilen.

Schließlich ist zu sagen, dass Anti-Bias Arbeit eine lebenslange Reise für Kinder und Erwachsene ist. Idealerweise beginnt diese Reise in den frühen Jahren und setzt sich in der weiteren Bildung und Erziehung des Kindes fort. Als vorurteilsbewusste Fachkräfte setzen wir diese Reise fort, indem wir mit anderen in unseren Kitas, Schulen und in der weiteren Gesellschaft arbeiten.

3. Was wir tun müssen, um Anti-Bias Education voran zu treiben

Anerkennen, dass Bildung und Erziehung für soziale Gerechtigkeit weiterhin notwendig ist

Natürlich kann ich nur im Kontext der Verbindung zu den USA sprechen. Wir sind keine nicht-rassistische (post-racial) Gesellschaft, ungeachtet dessen, was manche seit der Wahl Obamas zum Präsidenten der USA denken. Tatsächlich erleben wir gegenwärtig das Ansteigen einer sehr öffentlichen Bedrohung durch virulenten Fanatismus, der Radio, Internet und Demonstrationen durchdringt.

Abbildungen des Präsidenten Obama, die diesen rassistische Fanatismus widerspiegeln, zeigen ihn beispielsweise als Schimpansen; als wilden “Hexenarzt” (witch doctor); als hungerndes afrikanisches Kind mit einer Bierdose; als Neandertaler; als Zuhälter. Diese Abbildungen reflektieren rassistische Stereotype, die das Ergebnis eines seit langer Zeit währenden Rassismus sind. Darüber hinaus gibt es jetzt neue Bilder, etwa Präsident Obama dargestellt als Hitler und als illegalen Immigranten. Die Anzahl an Hassgruppierungen, die auf People of Color (‘ethnische Minderheiten’), Immigrant_innen und auf schwule/ lesbische Menschen zielen, ist gegenwärtig auf Rekordhöhe – 932 dokumentierte Gruppierungen im Jahr 2009 (Quelle: Southern Poverty Law Center). Manche wenden auch physische Gewalt an. Bewaffnete Männer kamen zu Reden von Obama, Schilder hochhaltend, die ihm Gewalt androhen. Ein beliebtes Schild heißt: “The tree of liberty needs to be watered with the blood of tyrants” – „Der Baum der Freiheit muss mit dem Blut der Tyrannen gewässert werden.“ Menschen auf “TEA party” Demonstrationen tragen Schilder mit der Aufschrift: “Next time we will be armed” – „Nächstes Mal werden wir bewaffnet sein“. Traurigerweise erhalten diese menschenunwürdigen Botschaften signifikant mehr Fernsehübertragungen als die Märsche und Demonstrationen der Bewegung für soziale Gerechtigkeit (welche wiederum in der Tat erheblich mehr Zulauf erhalten).

Der Anstieg von offenem rassistischem Fanatismus ist, wenngleich er abscheulich ist, nicht überraschend. Die Zeit, in der es zum ersten Mal einen US-amerikanischen Präsidenten gibt, der nicht weiß ist, ist auch eine Zeit ernsthafter ökonomischer Not. Wie Erzbischof Tutu 1992 in Südafrika, in einer anderen Zeit der ökonomischen Depression, ausführte: “Rassismus wird in westlichen Gesellschaften zunehmend akzeptiert, weil dessen Befürworter_innen darin erfahren sind, mit den Ängsten und Befürchtungen von Menschen in einer Zeit ökonomischer Schwierigkeiten zu spielen. Ihr müsst Euch erheben um zu denen gezählt zu werden, die den Rassismus ablehnen.” (Jet, 13.01.1992).

Die ideologischen und politischen Gegner unserer Arbeit zur Kenntnis nehmen

Ein anderer Zugang, über die Verbindung der Vision für gesellschaftliche Verhältnisse und Bildung & Erziehung für soziale Gerechtigkeit nachzudenken ist die, die politische Perspektive in den Blick zu nehmen, die am stärksten in Widerspruch mit ihr steht. Hier das Beispiel einer der in den USA politisch organisierten Gruppen, die Anti-Bias Arbeit ablehnen ebenso wie andere Ansätze von Bildung & Erziehung für soziale Gerechtigkeit. Die Gruppe nennt sich ‘Eagle Forum’ und ist seit den 70er Jahren aktiv, nachdem sie sich formiert hat, um sich gegen die Sichtweisen und Forderungen der Frauenbewegung zu stellen. Das ‘Eagle Forum’ war auch eine der ersten Gruppen, die den Anti-Bias Curriculum abgelehnt haben. Sie warfen dem Curriculum vor, Homosexualität bereits jungen Kindern einzuimpfen, und überhaupt anti-christlich und anti-amerikanisch zu sein. Sie denken noch immer so.

Ein Artikel mit dem Titel “’Soziale Gerechtigkeit’: Codewort für Anti-Amerikanismus”, der im Januar 2009 online veröffentlicht wurde, stellt fest: “Der Begriff ‘soziale Gerechtigkeit’ definiert keinen moralischen Grundsatz: Er ist ein linksdemokratischer Jargon um diejenigen zu stürzen, die die ökonomische und politische Macht innehaben.” Das Thema wird in weiteren Diskussionen aufgegriffen: “Bildung und Erziehung für soziale Gerechtigkeit ist das Kürzel für die Abkehr von amerikanischen Traditionen der persönlichen Gerechtigkeit und der freien Marktwirtschaft. … Sie lehrt, dass die ‘amerikanische Gesellschaft … systematisch rassistisch, sexistisch und klassizistisch ist und demzufolge institutionell diskriminierend gegenüber Frauen, Nicht-Weißen, Arbeiter_innen und den Armen ist”. Über seine anderen Sünden hinaus lehre Bildung und Erziehung für soziale Gerechtigkeit die Kinder, sich selbst „nicht als Konsumenten (von Informationen) zu sehen sondern als Akteure, die kritisch gegenüber ihrer Umwelt sind”.

Dies sind Sichtweisen auf Gesellschaft und Bildung & Erziehung, die unseren diametral entgegenstehen. In den Augen der politischen Rechten ist in den USA alles bestens. Jeder hat die gleichen Möglichkeiten, daher gibt es so etwas wie Rassismus, Sexismus etc. nicht. Wenn Leute in Armut leben oder die Schule abbrechen, dann weil sie faul oder schwach sind oder aus einer minderwertigen Kultur oder Familie kommen. Entsprechend gibt es keinen Grund für Veränderung – und diejenigen, die dies anders sehen, sind anti-amerikanisch.

Ich und diejenigen, die social justice education/ Anti-Bias Arbeit praktizieren, sind der Meinung, dass unsere Arbeit ganz eindeutig sehr wohl eine amerikanische Tradition ist – wenngleich eine andere als die, die seitens der politischen Rechten vertreten wird. Zu dieser anderen Tradition gehört z.B. Thurmond Marshall, ehemaliger Richter am US-Gerichtshof, der auch der Anwalt während des erfolgreichen Kampfs für die Beendigung juristischer Segregation im US-amerikanischen Bildungssystem war. In seinen Reden über die 1787 niedergeschriebene Verfassung der Vereinigten Staaten, die das Herzstück des US-Regierungssystems bildet, weist Thurmond Marshall darauf hin, dass die Verfasser_innen einen Großteil der amerikanischen Gesellschaft ausgelassen haben, als sie den Satz “We are the people” – “Wir sind das Volk” formuliert haben. Ausgelassen waren alle Frauen; alle Männer, die kein Eigentum/Haus besitzen; alle Afroamerikaner_innen und alle indigenen Bevölkerungsgruppen der USA. Marshall weist auch darauf hin, dass die ursprünglichen Mängel der Verfassung “zwei turbulente Jahrhunderte zu dessen Korrektur” erforderten. Und er sagt auch, dass noch immer viel Arbeit zu tun sei.

Eben diese Worte klangen in einer Rede des Präsidenten Obama über ‘Rasse’ und Rassismus in den USA nach:

„Es war nötig, dass Amerikaner in aufeinander folgenden Generationen gewillt waren, ihren Anteil zu leisten – mittels Protesten und Kämpfen, auf den Straßen und vor Gericht, durch einen Bürgerkrieg und zivilen Ungehorsam und bisweilen mit hohem Risiko – um die Lücke zu schließen zwischen der Verheißung unserer Ideale und den Realitäten in ihrer Zeit.“

Letztendlich muss jeder und jede von uns selbst herausfinden, in welcher Gesellschaft wir leben möchten, inwiefern diese Vorstellungen mit unseren Hoffnungen und Träumen übereinstimmen und wo wir denken, dass es notwendig ist, noch immer “die Lücke zu schließen zwischen der Verheißung unserer Ideale und der gegenwärtigen Realität”.

Sich mit anderen verbinden, um gemeinsam den Anti-Bias Ansatz/ den Ansatz Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung zu implementieren und zu verbreiten.

Um das zu tun, müssen wir sowohl in der Kindergruppe/ in der Klasse tätig sein als auch darüber hinaus. Die Infrastruktur des gesamten Bildungssystems, die frühe Bildung und Erziehung eingeschlossen, bedarf einiger Änderungen, um die Prinzipien vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung zu unterstützen. Erforderlich sind Strategien für die Aus- und Weiterbildung pädagogischer Fachkräfte, entsprechende Lehrmaterialien, kontinuierliche Weiterbildungsmöglichkeiten für Fachkräfte, und auch Zeit, um sich mit anderen zu treffen und über die Arbeit zu reflektieren und sie kritisch einzuschätzen. Es erfordert außerdem, sich dafür einzusetzen, dass vorurteils-bewusste Bildung und Erziehung/ Anti-Bias Pädagogik pädagogische Qualitätsstandards durchdringt und so zu einem integralen Bestandteil der Curricula in allen Jahrgangsstufen wird. Erforderlich ist ferner, Verbindungen und Koalitionen zwischen den Gruppen aufzubauen, die den einen oder den anderen Aspekt des Kaleidoskops von Identität und Vorurteilen bearbeiten.

Unser Anliegen, das Leben von Kindern auch außerhalb der pädagogischen Einrichtungen zu verbessern, fordert uns als Pädagog_innen dazu auf, uns mit den größeren Bewegungen für soziale Gerechtigkeit in unseren Ländern zu verbinden. Solche Verbindungen machen uns stärker, sie stärken unser Bewusstsein und unser kritisches Denken über aktuelle Herausforderungen und tragen dazu bei, uns selbst und unser fachliches Handeln zu reflektieren. Wie in der Kindergruppe/ der Klasse ist es dabei wichtig, das zu erkennen, was die unterschiedlichen Bewegungen für soziale und ökonomische Gerechtigkeit gemeinsam haben. „Teile und herrsche“ ist eine sehr alte und gleichzeitig sehr effektive Strategie der Machtausübung und des Machterhalts. Wir brauchen einander – auch wenn wir unsere Anstrengungen nur auf einen Aspekt des größeren Ganzen konzentrieren. Um unsere Arbeit mit den Kindern und unsere Profession weiterhin wirkungsvoll auszuführen, ist es erforderlich, sich mit anderen zu verbinden. Eine effektive Strategie ist es, kleine Unterstützungs- oder Aktionsgruppen mit Kolleg_innen zu bilden. Unterstützungs- oder Aktionsgruppen helfen Ihnen dabei, sich selbst und Ihre Arbeit zu reflektieren und Strategien zu entwickeln, um Veränderungen innerhalb des Bildungssystems anzugehen. Sie bieten auch emotionale Unterstützung, wenn die Anti-Bias bzw. Vorurteilsbewusste Praxis einen vor Herausforderungen stellt. Eine andere wichtige Strategie ist, Interessensgruppen/Gremien innerhalb existierender Organisationen pädagogischer Fachkräfte zu gründen und nationale Organisationen zu schaffen, die auf Bildung und Erziehung für soziale Gerechtigkeit in all ihren Formen fokussiert. Gruppen von Lehrer_innen bzw. Erzieher_innen, Familien und weiteren interessierten Personen, die dem Sozialraum angehören, sind darüber hinaus nützlich für die Vor-Ort-Unterstützung.

Den Diskurs über Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung mit Familien und Kolleg_innen erweitern

Es ist wichtig, organisierte politische Gegenbewegungen gegen Anti-Bias Arbeit nicht mit den Meinungsverschiedenheiten, dem Unbehagen oder der Verwirrung Einzelner zu verwechseln. Wir müssen sehr gut darin werden, Gespräche mit ganz unter-schiedlichen Menschen über die Gründe für Anti-Bias Arbeit, ihre Ziele und ihre Vorteile zu führen. Meiner Erfahrung nach liegt hierin eine große Herausforderung für viele Erzieher_innen und Lehrer_innen.

Sie arbeiten gerne mit den Kindern zu den Themen der Anti-Bias Education, sind jedoch ängstlich oder unsicher, dies mit den Eltern und den Kolleg_innen zu tun. Diese könnten verärgert reagieren, Eltern könnten ihre Kinder abmelden, man könnte seine Anstellung verlieren – solcherlei Ängste bewirken, dass viele Pädagog_innen zögern, Gespräche mit Familien und Kolleg_innen über Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung zu initiieren. Wir alle müssen unseren Mut und unsere Fähigkeiten erweitern, um mit Menschen, die anderer Meinung sind als wir, den Dialog aufzunehmen und mit ihnen im Dialog zu bleiben. Die überarbeitete Auflage meines Buchs, das jetzt “Anti Bias Education for young children and ourselves” („Anti-Bias Arbeit für junge Kinder und für uns selbst”) heißt, enthält viele Vorschläge, wie man das angehen kann.

Nachdem ich diesen Vortrag geschrieben hatte, haben mir internationale Ereignisse wieder einmal gezeigt, dass das Arbeiten für soziale Gerechtigkeit und für Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung eine Reise ist, die zuweilen sehr komplex und schmerzhaft ist. Das Ereignis, von dem ich spreche, ist der entsetzliche Angriff der israelischen Regierung auf die Schiffe, an deren Bord sich humanitäre Hilfsgüter befanden, die in Gaza so dringend gebraucht werden. Für Nelson Mandela und Erzbischof Tutu wie auch für viele andere Menschen weltweit verursacht die israelische Blockade gegen das palästinensische Volk in Gaza eine der schlimmsten humanitären Krisen, die es gegenwärtig gibt.

Ich bin Jüdin und ich verurteile dieses Vorgehen. Wieder einmal hatte ich damit zu kämpfen, wie ich zu meiner jüdischen Identität stehen kann und gleichzeitig eine unabhängige und kritische Position gegenüber den Apartheid-Maßnahmen der Regierung des jüdischen Staates Israel bewahre. Auch Sie haben möglicherweise mit ähnlich komplexen Schwierigkeiten zu kämpfen, in Bezug auf Ihre Identität und auf die Geschichte Ihres Landes. Es ist wie eine Ironie der Geschichte, dass mich als jüdische Frau insbesondere die Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung, die Sie hier machen, Hoffnung schöpfen lässt. Vielleicht ist es kein Zufall, dass eine Ihrer Kitas, die ich in der Neuauflage meines Buches erwähne, „Kita Anne Frank“ heißt und sich in der „Martin-Niemöller-Straße“ befindet.

Schlusswort

Ich komme zu meiner letzten Bemerkung. Eines der in der Bürgerrechtsbewegung beliebten Lieder beinhaltet den Refrain “Keep your eyes on the prize, hold on…” – „Behalte dein Ziel vor Augen, halte durch…“ Das ist es, was wir tun müssen, wenn wir den Traum von einer Welt realisieren wollen, in der alle Kinder sich entfalten und gedeihen. Wir müssen weiter machen, sowohl in den Zeiten, in denen unsere Arbeit für Inklusion Unterstützung durch Stiftungen, staatliche Institutionen oder im Bildungssystem erhält, wie auch in den Zeiten, in denen wir weniger Rückenwind haben. Dann müssen wir zusammenrücken und kreative Wege finden, um durchzuhalten. Ich danke Ihnen – für alles, was Sie dafür tun.