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Wie sollen wir zusammen leben? Inklusion als wertebezogener Rahmen für pädagogische Praxisentwicklung

Tony Booth (Prof. für Inklusive und Internationale Bildung, Universität Canterbury/ UK, Mitautor des Index for Inclusion)

Einleitende Gedanken

In diesem Text, der meinem Vortrag zugrunde liegt, geht es mir um einen Ansatz für die Entwicklung von Bildung und Gesellschaft. Ich nenne diesen Ansatz „Inklusion“ und verstehe darunter ein umfassendes Konzept mit Prinzipien, die ich gerne pädagogischer und gesellschaftlicher Entwicklung zugrunde legen möchte und die Aussagen darüber machen, wie wir versuchen sollten, zusammen zu leben.

„Inklusion“ ist das Gegenteil von „Exklusion“. „Inklusion“ erfordert eine konstante Wachsamkeit, um ausgrenzenden Kräften in Erziehung und Bildung, in der Gesellschaft und vor allem in uns selbst zu widerstehen. Das müssen wir uns klar machen, wenn wir über „Inklusion“ sprechen. In der Geschichtsschreibung unserer Länder gibt es gewaltvolle Erzählungen über Kolonialisierung wie auch über die Misshandlung der jeweils eigenen Bevölkerung aufgrund ihrer Ethnizität, Religion, ihres Geschlechts, ihrer Schichtzugehörigkeit, Armut oder ihrer politischer Anschauungen. Völker in der ganzen Welt haben allzu leichtfertig diejenigen unterdrückt, die sie als verschieden und deshalb als minderwertig angesehen haben.

Ich möchte zunächst den Begründungszusammenhang für ein breit gefasstes Verständnis von Inklusion darlegen, um daran etwas ausführlicher eine Definition von Inklusion anzuschließen, die das Erarbeiten eines wertebezogenen Rahmens in den Mittelpunkt stellt, der klare Orientierungshilfen für pädagogische Praxisentwicklung gibt. Im Anschluss gehe ich kurz darauf ein, wie ich derzeit den Index für Inklusion überarbeite, das Buch, mit dem wir im Einzelnen verdeutlichen, was die Implementierung inklusiver Werte für Bildungseinrichtungen bedeutet. Gemeint sind alle ihre Bereiche, auch die Beziehungsgestaltung, die sie fördern und die Verbindungen mit ihrem unmittelbaren Gemeinwesen wie auch mit Gemeinschaften auf nationaler und globaler Ebene.

Inklusion als ein Ansatz, der Prinzipien für pädagogische und gesellschaftliche Entwicklung enthält, ist keine Initiative, um einen Teilausschnitt der Erziehung einiger Kinder oder junger Menschen ein wenig zu modifizieren, sondern eine Strategie, um Bildung und Erziehung für alle zu überdenken und neu zu ordnen. So verstanden kann Inklusion dazu beitragen, Initiativen zu bestimmten Schwerpunkten zusammen zu führen, die von Bildungssystemen auf der ganzen Welt ergriffen worden sind, beispielsweise Initiativen, die etwas zu tun haben mit der Entwicklung von Schulqualität (educational development and school improvement), mit ‚Integrationspädagogik’ (inclusive education), ‚Bildung und Erziehung für alle’ (education for all), ‚Anti-Diskriminierungspädagogik’, ‚Menschenrechtsbildung’, ‚Werteerziehung’, ‚Gesunde Schulen’ (healthy schools), ‚Demokratiepädagogik’ (citizenship education), ‚Nachhaltige Schulen’, ‚Globales Lernen’, ‚Sozialer Zusammenhalt’ (social cohesion), ‚Familien- und Sozialraumorientierung’, ‚Lernen ohne Leistungsbewertung’ (learning without ability labelling) und ‚integriertes Arbeiten – zwischen Gesundheit, Sozialarbeit und Bildung’.

Von einem engen zu einem weiten Verständnis von Inklusion

Obwohl bereits seit Jahren ausführliche Darlegungen eines umfassenden Verständnisses von Inklusion verfügbar sind – verfasst von mir und einigen Anderen – überwiegt nach wie vor ein enges Verständnis, wonach mehr Kinder mit Beeinträchtigungen bzw. mehr Kinder, denen man „besonderen Förderbedarf“ zuschreibt, in Regeleinrichtungen integriert werden sollen. In diesem Verständnis ist Inklusion Teil einer „special needs education“ – einer Integrationspädagogik, in der pädagogische Probleme als die Folge der Beeinträchtigungen oder Defizite von Kindern und jungen Menschen gesehen wird und nicht als Folge des Scheiterns von Beziehungen, von Curricula, von Unterrichtsansätzen und Lernkonzepten, die weder auf die vorhandene Diversität noch auf den sozialen Druck eingehen, der auf Familien und Nachbarschaften lastet. Das Scheitern der Integrationspädagogik als Experiment, um pädagogische Probleme zu lösen, kann mit folgender Frage auf den Punkt gebracht werden: „Warum sind es viel mehr Jungen als Mädchen, die als schwierig gelten?“ Sobald wir in dieser Weise Überrepräsentation hinterfragen, können wir die Annahme hinter uns lassen, es handele sich um individuelle Probleme, die integrationspädagogisch gelöst werden könnten. Wir sind dabei zu überprüfen, wie das Bildungssystem Männlichkeit und Weiblichkeit aufgreift und herstellt.

Eine eng gefasste Sicht auf Inklusion begrenzt die Teilhabe derer, denen sie angeblich dienen soll. Dies trifft sogar da zu, wo man bereits verstanden hat, dass die Teilhabe von Kindern mit Beeinträchtigung nicht in erster Linie wegen ihrer Beeinträchtigungen erschwert ist, sondern auf Grund der Barrieren, die ihnen in den Weg gelegt werden. Menschen mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen sind als ganze Personen von einer Vielzahl von Ausgrenzungen betroffen. Sie so zu behandeln, als hinge ihre Teilhabe an Bildung und Gesellschaft nur davon ab, dass man einige Hindernisse in einer Einrichtung oder in einem System beseitigt, reduziert sie in ihrer Persönlichkeit, da diese Sicht andere Aspekte ihrer Zugehörigkeiten ignoriert, wie ihren Hintergrund oder ihre Ethnizität, ihr Geschlecht, ihre sexuelle Orientierung, ihre Körperform oder ihre politische Weltanschauung. Es verschleiert zudem die kreativen Strategien, mittels derer eine Form von Ausgrenzung durch eine andere ersetzt wird, indem beispielsweise die offenbar legitime Ausgrenzung, die mit „besonderem Förderbedarf“ assoziiert wird, auf Kinder von Minderheitengruppen angewandt zu deren Überrepräsentation innerhalb dieser Kategorie führt, z.B. unter den Roma in Osteuropa.

Das soll nicht heißen, dass wir die Diskriminierung ignorieren sollen, die behinderte Menschen in Bildung und Gesellschaft erfahren, und auch nicht, dass wir aufhören sollen, uns für die Teilhabe von behinderten Menschen einzusetzen. Allerdings ist es nützlich, zwischen Interessenvertretung (advocacy) und Politik zu unterscheiden. Aufgrund der Tatsache, dass ausgrenzende Kräfte auf einzelne Identitätsaspekte von Menschen zielen, sind Interessenvertretungen und Selbstvertretung in Bezug auf einen Identitätsaspekt weiterhin notwendig, wenngleich dafür Sorge getragen werden muss, dass die Minderung der Nachteile des Einen nicht an eine Vergrößerung der Diskriminierung Anderer geknüpft wird. Kinder mit Beeinträchtigungen gibt es jedoch in allen gesellschaftlichen Gruppen. Deshalb kann ihre Teilhabe nur dann verwirklicht werden, wenn Bildungssysteme und Bildungsorte so gestaltet werden, dass sie zur Teilhabe von jedem und jeder Einzelnen auffordern. Das schließt Erwachsene genauso ein wie Kinder. Es ist schwierig, Erwachsene zu ermutigen, sich für die Teilhabe von Kindern und jungen Menschen einzusetzen, wenn sie in ihrem eigenen Arbeitsleben damit kämpfen müssen, dass sie nichts zu sagen haben. Zum anderen ist es wichtig zu erinnern, dass die meisten behinderten Menschen Erwachsene sind, insbesondere ältere Menschen. Maßnahmen zum Abbau von Diskriminierung behinderter Kinder könnten durch eine höhere Anzahl behinderter Menschen, die sich als Erzieher_innen bzw. Lehrer_innen qualifiziert haben, effektiver durchgesetzt werden.

Verwirrende Vorstellungen von Inklusion haben auch mit der Verwendung des Begriffs „social inclusion“ zu tun, meist verstanden als „Abbau von Deprivation“, bezogen auf Armut und unangemessene Wohnverhältnisse. Manchmal ist damit eher die Überwindung von Stigmatisierung und anderen negativen psychologischen Konsequenzen auf Grund von Benachteiligung gemeint und nicht die Überwindung der Benachteiligung selbst. Entsprechend konzentrieren sich manche bildungspolitische Maßnahmen eher darauf, die sekundären Wirkungen von Armut zu beseitigen, wie z.B. niedrigere Leistungserwartungen und Bildungsaspirationen, als die Missstände wie niedrige Einkommen, unangemessene Ernährung und Wohnverhältnisse anzugehen. Zeitweilig wird in England der Begriff „soziale Inklusion“ von Pädagog_innen verwendet, die etwas gegen „Verhaltensauffälligkeiten“ unternehmen wollen. Die Vorstellung, dass sich ‚Inklusion’ auf eine Gruppe bezieht und ‚soziale Inklusion’ auf verschiedene Gruppen, ist jedoch nicht hilfreich. Sie kann glauben machen, es gäbe eine nicht-soziale Exklusion, die Menschen mit Beeinträchtigungen widerfährt und die sozusagen naturgegeben ein Resultat ihrer Beeinträchtigung sei. Inklusion und Exklusion sind immer sozial hergestellt.

Inklusion ist komplex und kann nicht in einem einzigen Satz mit ein paar wohl ausgesuchten Wörtern definiert werden. Für mich ist Inklusion ein nie endender Prozess der zunehmenden Partizipation aller Beteiligten, der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen. Dazu gehört, allen Formen von Ausgrenzung den Kampf anzusagen und sie abzubauen. Zunehmende Partizipation aller Beteiligten meint nicht nur, dass ihnen allen der Zugang zu ihren Bildungseinrichtungen offensteht. Es bedeutet, dass Bildungseinrichtungen so entwickelt sind, dass sie die vorhandene soziale Vielfalt berücksichtigen und zwar so, dass Kinder, junge Menschen und Erwachsene, die mit ihnen arbeiten, als gleichwertig wertgeschätzt werden. Das Prinzip des gleichen Werts, dass nämlich jedes Leben und jeder Tod von gleichem Wert sind, ist zentral für Inklusion. Es impliziert ein weiteres Prinzip, nämlich das, der Schule für alle den Vorrang zu geben. Unsere Bildungssysteme und -einrichtungen reagieren auf soziale Vielfalt in der Regel so, dass eine bewertende Hierarchie unter Kindern innerhalb von Schulen und zwischen Schulen hergestellt wird, und zwar entlang von Leistung, Behinderung, Religion, soziale Schicht und Wohlstand. Die Trennung von Kindern nach Leistung beruht in der Regel auf der Zuschreibung von Fähigkeiten, die bereits in früher Kindheit beginnt. Diese Zuschreibungen beschränken die Zukunftsvorstellungen der Kinder und ihre Erwartungen an ihre eigene Leistungsfähigkeit. Susan Hart und ihre Kolleg_innen haben diese Zusammenhänge in Theorie und Praxis untersucht. (vgl. Hart et al. 2006)

Inklusive Werte in die Tat umsetzen

Inklusion bedeutet in erster Linie, bestimmte Werte in Bildung und Erziehung praktisch werden zu lassen. Es ist ein Bekenntnis zu bestimmten Werten, das den Wunsch entstehen lässt, Ausgrenzung zu überwinden und Inklusion voranzutreiben. Wenn Inklusion nicht mit Werten verbunden ist, von denen man zutiefst überzeugt ist, dann mag das Streben nach Inklusion nur die Anpassung an eine vorübergehende Mode sein, oder eine offenkundige Befolgung von Anweisungen der nationalen oder lokalen Regierung.

Werte sind grundlegende Wegweiser und Aufforderungen zu handeln. Sie spornen uns an, geben uns ein Bewusstsein für die Richtung und bestimmen ein Ziel. Wir können nicht wissen, was wir tun oder ob wir das Richtige getan haben, wenn wir nicht verstehen, wie unser Handeln mit unseren Werten verbunden ist: Alle Handlungen, die sich auf andere auswirken, sind von Werten untermauert: Eine jede solche Handlung wird zu einem moralischen Argument, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Also ist der Schritt, sich dieses Zusammenhangs bewusst zu sein, der praktischste, den wir im Bildungsbereich gehen können. Die Diskussion über Werte ist in meinem Land nicht mehr so verbreitet, da ein Bildungsverständnis an Einfluss gewonnen hat, das mit der Identifikation von „guter Praxis“ zu tun hat, verstanden als „das, was funktioniert“, um Leistung zu erhöhen. Dennoch mag die gute Praxis des Einen der pädagogische Albtraum des Anderen sein. Um im Bildungsbereich verantwortungsvoll zu handeln müssen wir das, was wir tun, auf unsere Werte beziehen. Die Loslösung der Bildungsdiskussionen von ihrer moralischen Entscheidungsgrundlage sind von dem Philosophen Alasdair MacIntyre in seinem Buch ‚After Virtue’ (MacIntyre 1981) gut erfasst worden. Der Anspruch, dass pädagogischer Fortschritt wertfrei definiert werden könne, bedingt einen Prozess der ‚Demoralisierung’. ‚Demoralisierung’ trägt eine doppelte Bedeutung: zum einen die der ‚bewussten Trennung von Handlung und Moral’ und zum anderen die eher gebräuchliche im Sinne von ‚entmutigt sein, bedrückt sein, weil die eigenen Absichten nicht aufgehen’. Pädagogische Fachkräfte können demoralisiert sein, wenn ihre Handlungen nichts mehr zu tun haben mit den tiefen moralischen Überzeugungen, die sie ursprünglich zu ihrem Beruf gebracht haben. Wenn wir die Entwicklung pädagogischer Praxis mit Werten verbinden, dann kann es sein, dass wir wieder Anschluss an tiefe Überzeugungen finden, die wir schon lange vertreten, bzw. die in uns schlummern.

Als wir uns daran machten, sorgfältig all jenen Werte in ein Gerüst einzubauen, das als Ganzes eine inklusive Praxisentwicklung unterstützt, hatten wir eine Liste von Oberbegriffen wie Gleichheit, Rechte, Teilhabe, Gemeinschaft, Respekt für Vielfalt, Nachhaltigkeit, Gewaltfreiheit, Vertrauen, Mitgefühl, Ehrlichkeit, Mut, Freude, Liebe, Hoffnung/ Optimismus und Schönheit. Diese Liste ist das Ergebnis unzähliger Diskussionen mit Lehrer_innen, Schüler_innen und anderen, in Großbritannien und weltweit. Jeder dieser Begriffe steht für einen Wert, der nur verstanden werden kann, wenn man seine Bedeutung genauer betrachtet. Solche Betrachtungen werden weiter unten angestellt, jede einzelne kann als ein möglicher Zugang zu einer vertieften Auseinandersetzung betrachtet werden. Sie bilden zusammen einen weiten Rahmen für Praxis und für Bestrebungen im Bildungsbereich und in der Gesellschaft und verhelfen mir und anderen zu einer Erweiterung unseres Vorstellungsvermögens. Während alle Werte-Oberbegriffe für die Entwicklung pädagogischer Arbeit notwendig sind, tragen fünf davon – Gleichheit, Teilhabe, Gemeinschaft, Respekt für Vielfalt und Nachhaltigkeit – stärker als andere dazu bei, inklusive schulische Strukturen, Arbeitsabläufe und Aktivitäten aufzubauen. Die anderen Werte wurden hinzugefügt, um die Kluft zu füllen zwischen Vorstellungen einer inklusiven Schulentwicklung und den Strategien, wie diese umgesetzt werden können. Alle zusammen genommen schaffen die Begriffe eine stimmige, prinzipien-basierte Perspektive, wie Kinder und Erwachsene im Bildungsbereich ihre Leben gemeinsam leben könnten.

Es gibt zwei Gründe, deretwegen Leute mit der Liste von Oberbegriffen, die ich aufgestellt habe, nicht einverstanden sein könnten. Der eine Grund: Sie möchten andere Begriffe benutzen, um die Werte zu diskutieren, die stärker in Verbindung zu ihren eigenen Gedankengängen und Lebenserfahrungen stehen. Da Werte zum Handeln auffordern sollen, wird das Vokabular, das benutzt wird, um sie zu beschreiben, sich von Mensch zu Mensch und nach Gruppen von Menschen unterscheiden. Manche Leute, die meine Liste zum ersten Mal betrachten, sagen sofort, dass der eine oder andere grundlegende Wert wie ‚Verantwortung’, ‚Respekt’, ‚Freiheit’ oder ‚Zusammenarbeit’ in meinen Oberbegriffen fehlt. Sie möchten eventuell meine Liste verändern, selbst wenn sie bei genauerer Überprüfung der Meinung sind, dass ihre Anliegen in dem Orientierungsrahmen an bestimmter Stelle abgedeckt werden. Ich verbinde ‚Freiheit’ mit ‚Rechten’ und ‚Teilhabe’ mit ‚Verantwortung’ und ‚Zusammenarbeit’ mit ‚Community’ (Gemeinschaft). Die detaillierte Auflistung von inklusiven Werten ist auch dafür gedacht, die Meinungsverschiedenheiten und Konflikte herauszuarbeiten, die es zur Frage gibt, wie pädagogische Praxis entwickelt werden soll. Menschen haben sehr verschiedene Ansichten über das Ausmaß, wie weit Ungleichheit zwischen Menschen reduziert werden oder wie weit die Beteiligung von Menschen innerhalb von Schulen und Gesellschaft ermutigt werden soll.

Meinungsverschiedenheiten mit meiner Liste mögen auch aufkommen, weil viele Menschen nicht die gleichen Werte teilen. Solche Meinungsverschiedenheiten mögen in der Art und Weise versteckt sein, wie über Werte gesprochen wird, als seien es feine Wörter, die nur für den Zweck ausgesprochen oder aufgeschrieben werden, um zu imponieren oder um die wirklichen Handlungsmotive desjenigen zu verschleiern. Ich erlebe zuweilen Menschen, insbesondere Politiker_innen, die über ihre Werte oder über die Werte ihrer Gesellschaft sprechen, ohne sich darum zu kümmern, wie sich die Verpflichtung gegenüber Werten im eigenen Handeln und in dem Handeln anderer Menschen zeigt. Für mich sind Werte als Hilfestellungen zu betrachten, um Maßnahmen zu spezifizieren. In Schulen bedeutet das, Werte mit der Ausrichtung von Curricula in Verbindung zu bringen, mit den Beziehungsverhältnissen zwischen Kindern und Erwachsenen und Kindern bzw. Erwachsenen untereinander, innerhalb der Schule und über die Schule hinaus, mit den Aktivitäten in den Klassenzimmern, Lehrerzimmern und auf Schulhöfen.

Der Rahmen, den ich entwickelt habe, ist nicht als Rezept gedacht, sondern als eine Einladung zum Dialog. Indem Menschen die Werte diskutieren, die sie ihren Handlungen und den Handlungen anderer zugrunde legen möchten, durchlaufen sie eine Art Alphabetisierung in Bezug auf Werte (value literacy) und werden zunehmend fachkundig in moralischen Diskussionen. In einem solchen Prozess kann sich herausstellen, dass manche Entscheidungen es erforderlich machen, eines Wert mit einem anderen Wert in eine Abwägung zu bringen, zum Beispiel wenn die Partizipation eines Kindes die Partizipation eines anderen Kinds beeinträchtigt. Zur Werte-Alphabetisierung gehört es, komplexe Urteile angesichts sich widerstreitender moralischer Argumente zu fällen.

Im Folgenden ist meine ausführliche Darstellung von ‚inklusiven Werten’ dargelegt.

Gleichheit: Gleichheit und verwandte Begriffe wie Gleichwürdigkeit (equity), Fairness und Gerechtigkeit sind zentral für inklusive Werte. Ungleichheit, Ungleichwürdigkeit, Unfairness und Ungerechtigkeit sind Formen von Ausgrenzung. Gleichheit meint nicht, dass alle Menschen gleich seien oder auf dieselbe Weise behandelt werden sollten, sondern dass jede und jeder als gleichwertig behandelt wird. Das hat Implikationen für die Art und Weise, wie Erwachsene und Kinder in Schulen miteinander umgehen. Es bedeutet, dass Kinder zwischen und innerhalb von Schulen und Klassen so zusammengefasst werden, dass bewertende Hierarchien vermieden werden. Es betrifft auch die Art und Weise, wie Schulen geleitet werden. Bei einer inklusiven Sicht auf Gleichheit geht es nicht um ‚Chancengleichheit’ auf der Grundlage von ungleichem Status, Reichtum und Lebensverhältnissen, sondern darum, genau diese Ungleichheiten zu reduzieren. Wie Menschen über die Akzeptabilität von Ungleichheit in nationalen wie internationalen Kontexten, in reichen wie armen Lebensverhältnissen nachdenken, lässt tiefe Meinungsverschiedenheiten über Inklusion erkennen. Oft verhalten sich Menschen nicht so, als ob ‚jeder Tod und jedes Leben von gleichem Wert sind’, nicht nur, weil sie selbstverständlich eher um diejenigen besorgt sind, die ihnen am nächsten stehen, sondern weil sie nicht der Meinung sind, dass das Leiden von Anderen außerhalb ihrer Familien, ihrer Stadtteile oder ihres Landes zum Handeln auffordern sollte, es zu verringern.

Rechte: Rechte gründen auf einem Bekenntnis zu Gleichheit: Alle Menschen haben den gleichen Wert, denn sie haben alle die gleichen Rechte. Rechte geltend zu machen heißt die Auffassung geltend zu machen, dass jede/r die gleiche Berechtigung für die Freiheit von Not und die Freiheit für Handlungen hat. So besitzt jede/r das Recht auf Nahrung, Zuflucht, Schutz und Fürsorge. Wenn eine Handlung zu Ungleichheit führt, kann sie kein Recht sein. Vorstellungen von Wahlfreiheit oder Schutz des Eigentums finden da ihre Begrenzung, wo sie andere daran hindern, ihre Rechte auszuüben und so die Ungleichheit verschärfen. Kinder und junge Menschen haben ein Recht auf freie öffentliche (d .h. staatlich zur Verfügung gestellte) Bildung von hoher Qualität an ihrem Lebensort. Die Förderung von Menschenrechten innerhalb des Bildungsbereichs ermutigt die Entwicklung wechselseitiger und fürsorgender Beziehungsverhältnisse. Menschen wünschen sich manchmal, Rechte und Pflichten miteinander zu verbinden. Aber es ist ein Irrtum anzunehmen, dass das Gewähren von Rechten an ein bestimmtes Verhalten gebunden ist. Rechte gelten bedingungslos und wir haben sie Kraft unseres Menschseins. Rechte können jedoch auch konflikthaft zueinander sein und das kann bedeuten, dass zum Beispiel das Recht auf Unversehrtheit einer Person Einschränkungen der Freiheit einer anderen Person mit sich bringen kann. Es liegt auf der Hand, dass genauso wie beim Wert der Gleichheit auch Rechte in der Praxis debattiert werden müssen: Weil Alle zur Einhaltung von Rechten durch ihre Zustimmung zu Dokumenten der Vereinten Nationen verpflichtet sind. Weil sie weltweit missachtet werden. Und weil es zu wenige Anstrengungen gibt, Rechtsverstöße zu verfolgen. Die Berücksichtigung von Menschenrechten kann auch zu der Frage führen, wie Nicht-Menschen behandelt werden sollen.

Teilhabe (participation): Teilhabe in Bildungsinstitutionen für pädagogisches Personal, junge Menschen und ihre Familien wird häufig nicht angestrebt. Teilhabe geht darüber hinaus, beginnt jedoch zunächst mit der Tatsache, einfach da zu sein. Für ausgegrenzte Kinder ist daher der Zugang zu Bildung oder zu lokalen Schulen eine Voraussetzung für ihre Teilhabe. Teilhabe besteht aus zwei Elementen, die mit Beteiligungsaktivitäten und dem sich beteiligenden Subjekt zu tun haben. Eine Person partizipiert nicht nur, wenn sie in gemeinsamen Aktivitäten mit anderen involviert ist, sondern wenn sie sich einbezogen und akzeptiert fühlt. Es geht darum, mit Anderen zu sein und mit ihnen zusammen zu arbeiten. Es geht um aktives Engagement beim Lernen. Es geht um die Beteiligung an Entscheidungen über das eigene Leben, einschließlich Bildung und Querverbindungen zu Vorstellungen von Demokratie und Freiheit. Dazu gehört auch das wichtige Recht, nicht partizipieren zu müssen, also seine Autonomie gegenüber einer Gruppe zu behaupten, indem man ‚Nein’ sagt. Auch Mut ist dafür notwendig. Wenn wir uns bewusst sind, welcher Art und welchen Ursprungs unsere Handlungen, Absichten und Gefühle sind, kann uns das dabei helfen, uns aktiv zu beteiligen. Beteiligung erfordert Dialog mit anderen auf der Basis von Gleichheit und deswegen ist es erforderlich, Status- und Machtunterschiede ganz bewusst zur Seite zu schieben. Teilhabe ist erhöht, wenn das Zusammenwirken mit anderen uns in der Wahrnehmung unserer eigenen Identität bestärkt. Wenn wir von anderen akzeptiert und wertgeschätzt als die, die wir sind.

Respekt für Vielfalt (respect for diversity): Die Bezugnahme auf ‚Vielfalt’ macht aufmerksam auf Unterschiede wie auch auf Gemeinsamkeiten zwischen Menschen: Vielfalt meint die Unterschiede, die es auf der Basis von Gemeinsamkeiten der Menschheit gibt. Vielfalt umfasst jeden Einzelnen, und nicht nur diejenigen, die außerhalb einer fiktiven Normalität gesehen werden, was ein korrumpierter Gebrauch des Begriffs zuweilen nahelegt, wonach Vielfalt assoziiert wird mit „Anderssein“. In der Sichtweise sind Gruppen und Gemeinschaften (communities) homogen, die Unterschiede unter ihnen werden nicht wahrgenommen. Eine inklusive Antwort auf Vielfalt begrüßt es, dass sich die unterschiedlichen Gruppen bilden, denen Einzelne gleichberechtigt zugehörig sind, die sich wohl fühlen und die Anderen als gleichwürdig respektieren, unabhängig von den wahrgenommenen Unterschieden. So gesehen ist Vielfalt eine kostbare Ressource für das Leben und für das Lernen und eben nicht ein Problem, das gelöst werden muss. Diese Sichtweise steht im Gegensatz zu einem selektierenden Ansatz, dessen Ziel die Aufrechterhaltung von Uniformität und Homogenität ist, indem Menschen kategorisiert und nach einer bewertenden Hierarchisierung bestimmten Gruppen zugeordnet werden. Die Ablehnung von Vielfalt hat in der Regel damit zu tun, dass wir Andersheit in uns selbst ablehnen. Wenn wir zum Beispiel nicht sehen wollen, dass auch wir von Behinderungen/ Beeinträchtigungen oder Alter betroffen sein können, kann uns das im Wunsch bestärken, uns davon abzugrenzen und alte Menschen und Menschen mit Behinderungen zu diskriminieren. Ein inklusiver Ansatz bedeutet, dass wir uns der zerstörerischen und gefährlichen Gleichsetzung von Andersheit mit Minderwertigkeit widersetzen, denn als systematischer Bestandteil von kulturellen Regeln und Gepflogenheiten dient sie zur Rechtfertigung von Diskriminierung und sogar von Genozid.

Gemeinschaft (community): Wenn wir eine Gemeinschaft aufbauen, erkennen wir an, dass wir in Beziehungen mit anderen leben und dass Freundschaften wesentlich für unser Wohlergehen sind. Das Aufbauen von Gemeinschaft erfordert eine Kultur, die Zusammenarbeit ermutigt. Eine inklusive Sicht auf Gemeinschaft erweitert die Bindung und Verpflichtung gegenüber Familie und Freunden um Kameradschaftlichkeit auch mit anderen. Sie ist an die Entwicklung von Verantwortungsgefühl gebunden und an Vorstellungen von Öffentlichkeit, Bürgerschaft, globale Bürgerschaft und der Anerkennung einer globalen wechselseitigen Verflechtung. Eine inklusive Schulgemeinschaft bietet ein Modell dafür an, was es bedeutet, ein/e verantwortliche/r und aktive/r Bürger/in zu sein, deren/ dessen Rechte auch außerhalb der Schule respektiert werden. Inklusive Gemeinschaften sind stets offen für und bereichert durch neue Mitglieder, die zu ihrer Veränderung beitragen. Im Bildungsbereich bringt die Bildung von Gemeinschaften mit sich, wechselseitige nachhaltige Beziehungen zwischen den Bildungseinrichtungen und den sie umgebenden Communities zu entwickeln. Gemeinschaft heißt, gemeinsam zu handeln, in Kollegialität und in Solidarität. Wenn Menschen gemeinsam handeln, verständigen sie sich darüber, wie man in den sich verändernden Institutionen am besten weiter kommen kann.

Nachhaltigkeit: Das wichtigste Ziel von Bildung und Erziehung ist es, Kinder und junge Menschen auf nachhaltige Lebensweisen innerhalb von nachhaltigen Communities und Lebensumwelten vorzubereiten, lokal und global. Das Engagement für inklusive Werte muss mit dem Engagement für das Wohlergehen zukünftiger Generationen einhergehen. Diskussionen über Inklusion enden immer in der Frage: „Inklusion in was hinein?“ Schulen, die inklusive Strategien entwickeln, sind Orte, die die nachhaltige Entwicklung des Lernens und der Partizipation von allen bestärken ebenso wie den dauerhaften Abbau von Ausgrenzung und Diskriminierung. In einer Zeit, in der Umweltzerstörung, Abholzung, Ozonabbau und globale Erwärmung die Lebensqualität jedes Einzelnen bedrohen, und bereits jetzt die Lebensqualität von Millionen von Menschen weltweit mindern, ist ökologische Nachhaltigkeit zentral für Inklusion. Schulen, die sich inklusiv entwickeln, müssen sich damit auseinandersetzen, die physische und natürliche Umwelt innerhalb ihrer Grenzen und darüber hinaus zu pflegen. Die „Alphabetisierung in Ökologie“ erfordert ein Verstehen der Natur und Aufmerksamkeit für die Natur – und keine Katastrophenangst. Sie muss mit Hoffnung und dem Optimismus verbunden sein, dass Umweltrisiken bewältigt werden können. Um nachhaltig zu sein, müssen Veränderungen integriert sein in Kulturen, von wo aus sie auch zur Entwicklung veränderter Identitäten beitragen.

Gewaltfreiheit: Gewaltfreiheit erfordert ein Zuhören und Verstehen der Perspektive von Anderen und ein Abwägen der Stärke von Argumenten, einschließlich der eigenen. Sie erfordert die Herausbildung von Fähigkeiten zur Verhandlung, Vermittlung (Mediation) und zur Konfliktlösung bei Kindern und Erwachsenen. Dafür braucht es Erwachsene, die Gewaltfreiheit in ihrem eigenen Handeln vorleben. In Gemeinschaften von Gleichen werden Meinungsverschiedenheiten eher im Dialog gelöst als durch den Einsatz körperlicher Überlegenheit oder Überlegenheit auf Grund des Status. Mobbing passiert dann, wenn Menschen ihre Macht missbrauchen, um jemand anderen verletzbar zu machen, physisch oder psychisch. Die Schikanierung und das Mobben von Menschen aufgrund ihrer Ethnizität, Gender, Behinderung, Alter oder sexueller Orientierung sind allesamt Formen von Gewalt. Dies lässt Konfliktlösungsstrategien in Frage stellen, die mit bestimmten Vorstellungen von Männlichkeit verknüpft sind. Gleichzeitig zeigt es den Bedarf an Alternativen, wie eine stabile männliche Identität entwickelt werden kann. Erforderlich ist, sich die Vorstellungen von „Gesichtsverlust“ oder von „Respektverlust“ und deren Verbindungen zu „Rache“ genau anzusehen. Gebraucht wird eine Balance zwischen Selbstbehauptung und Aggression. Wut gilt als wichtiges Indiz für die Heftigkeit von jemandes Gefühlen gegenüber einer Person oder einem Geschehnis. Sie muss allerdings produktiv gewendet werden und soll nicht in aggressive Reaktionen münden. Institutionelle Gewalt oder Mobbing treten auf, wenn die Menschlichkeit und Würde derer, die in den Institutionen sind, nicht respektiert werden; wenn Menschen als Mittel zum Zweck behandelt werden. Das kann passieren, wenn Schulen oder andere Bildungsinstitutionen als Unternehmen betrachtet werden. Die Werte solcher Organisationen bleiben hinter der anscheinend neutralen ‚business software’ verborgen, für die Teambesprechungen als Geschäftswert gelten. Gewaltfreie Einrichtungen werden in Übereinstimmung mit den Bedarfen der dortigen Menschen entwickelt, in Übereinstimmung mit der Umwelt und mit den sie umgebenden Communities.

Vertrauen: Vertrauen unterstützt Partizipation. Vertrauen wird benötigt, um unabhängiges Lernen und die Schaffung von Dialogstrukturen innerhalb von Bildungseinrichtungen zu bestärken. Bildungseinrichtungen können dazu beitragen, dass Kinder und junge Menschen auch Vertrauen zu Menschen außerhalb ihrer Familien aufzubauen. Das kann insbesondere für diejenigen wichtig sein, die sich innerhalb ihrer Familien gefährdet fühlen. Und es kann eine positive Erfahrung für diejenigen sein, die einer diskriminierten Gruppe angehören und deshalb gefährdet sind, wie z.B. Gruppen ohne festen Wohnsitz (travellers) oder Asylsuchende. Vertrauen ist eng mit Vorstellungen von Verantwortung und Vertrauenswürdigkeit verbunden. Vertrauen ist nötig, um Respekt für sich selbst und wechselseitigen Respekt in der professionellen Praxis zu entwickeln. Je weniger Vertrauen Menschen erfahren, umso weniger Vertrauenswürdigkeit werden sie eventuell ausbilden (O’Neill 2002). Vertrauen in die Fairness von anderen ist notwendig, wenn schwierige Themen aufgedeckt und angegangen werden müssen, die die Entwicklung pädagogischer Arbeit/ Qualität behindern: Menschen fühlen sich frei, ihre Meinung zu sagen, wenn sie darauf vertrauen, dass andere in einen respektvollen Dialog mit ihnen gehen, ohne sich daraus einen Vorteil zu verschaffen.

Ehrlichkeit: Ehrlichkeit umfasst mehr als das freie Aussprechen von Wahrheit. Unehrlichkeit mag mehr mit dem absichtlichen Zurückhalten von Informationen zu tun haben als mit direktem Lügen. Absichtlich Informationen vorzuenthalten oder Fehlinformationen zu geben, kann die Beteiligung von Menschen behindern. Es kann ein Mittel derjenigen in Machtpositionen sein, um diejenigen mit weniger Macht zu kontrollieren. Ehrlichkeit meint auch, Scheinheiligkeit zu vermeiden, indem man in Übereinstimmung mit den selbst vertretenen Werten oder Prinzipien handelt. Ehrlichkeit bedeutet auch, Versprechen einzuhalten. Während Ehrlichkeit in direktem Zusammenhang mit Integrität und Aufrichtigkeit steht, hat sie auch eine Verbindung zu den Werten Mut und Vertrauen. Ehrlichkeit ist schwieriger, wenn Mut daran geknüpft ist und einfacher, wenn man darauf vertrauten kann, dass andere einen unterstützen. Ehrlichkeit im Bildungsbereich bedeutet, Wissen über lokale und globale Realitäten mit jungen Menschen zu teilen. Ihnen Mut zu machen, das in Erfahrung zu bringen, was in ihren Welten los ist, so dass sie fundierte Entscheidungen in Gegenwart und Zukunft treffen können. Dazu gehört auch, Mut zu machen, dass schwierige Fragen gestellt werden sollen – und bereit zu sein, die Grenzen des eigenen Wissens zuzugeben.

Mut (courage): Mut ist oft notwendig, um sich gegen das Gewicht von Konventionen zu behaupten, sich seine eigenen Gedanken zu machen und diese auszusprechen, gegen Macht und Autorität und die Sichtweisen und Kulturen einer Gruppe. Man braucht mehr persönlichen Mut, um für sich selbst oder andere einzutreten, wenn es keine Kultur gegenseitiger Unterstützung gibt oder wenn diese ausgehöhlt wurde. Es erfordert generell Mut, Missstände in der eigenen Institution anzusprechen, was als „Nestbeschmutzung“ gilt und wofür man u.U. seine Beförderung aufs Spiel setzt, eine Anstellung oder auch Freundschaft. Während „Nestbeschmutzung“ als mangelnde Loyalität gegenüber denjenigen gelten mag, die die Macht in einer Organisation haben, kann sie ein Beispiel für inklusive Loyalität sein, die der weiter gefassten Community gilt und insbesondere denjenigen, die in der Community am stärksten gefährdet sind. Mut ist notwendig, um Diskriminierung zu widerstehen, indem sie wahrgenommen, benannt und dann bekämpft wird.

Freude: Inklusive Werte beschäftigen sich mit der Entwicklung der ganzen Person, mit ihren Gefühlen und Affekten; mit der Weiterentwicklung des menschlichen Geistes; mit der Freude am Lernen, am Unterrichten und in Beziehungen. Bildungseinrichtungen sollen ermöglichen, „zu sein“ und auch „zu werden“. Eine freudvolle Bildung und Erziehung fördert Lernen durch Spiel, Heiterkeit und Humor. Sie ermutigt und zelebriert Zufriedenheit und Befriedigung beim Erwerben neuer Interessen, neuen Wissens und neuer Fähigkeiten als den besten Weg, um sich diese nachhaltig anzueignen. Bildungseinrichtungen, die sich lediglich auf ein enges Set von Kernkompetenzen konzentrieren oder Bildung (nur) in der Funktion sehen, persönlichen Status und wirtschaftliche Vorteile sicherzustellen, können zu Orten ohne Freude und Humor werden. Sie können Erwachsene und Kinder in ihrer Entfaltung behindern und zu Unlust und Demotivierung führen.

Mitgefühl: Mitgefühl meint, dass man das Leiden anderer sieht und den Wunsch hat, es zu lindern. Es erfordert eine bewusste Anstrengung, um über das Ausmaß von Diskriminierung und Leiden Bescheid zu wissen, im Nahraum und auf globaler Ebene. Man muss gewillt sein, sich mit den Perspektiven und Gefühlen anderer Menschen auseinander zu setzen. Wenn man offen ist für die Gefühle derer, die Diskriminierung und Not erfahren, verschiebt sich der Maßstab, inwiefern persönliches Wohlbefinden von Kindern ein Ziel für Bildung und Erziehung sein kann. Inklusives Wohlbefinden ist immer mit der Sorge um das Wohlbefinden aller verbunden. Mitgefühl zu fördern bedeutet, grausame Bestrafungsmethoden abzuschaffen, die bei Regelverstößen eingesetzt werden. Und auch die Durchsetzung der professionellen Verpflichtungen auf Fürsorge und Ressourcenorientierung. Erwachsene müssen Verantwortung übernehmen, wenn es eine Störung in den Beziehungen zu Kindern und jungen Menschen gibt. Wie sehr die Beziehung zwischen einer jungen Person und einer Bildungseinrichtung auch zerrüttet sein mag, ist es die Pflicht der pädagogischen Fachkräfte, zu fragen: Wie kann dieser junge Mensch am besten darin unterstützt werden, sich am Lernen und an den sozialen Aktivitäten der Bildungseinrichtung zu beteiligen und ein vollwertiges Mitglied zu sein? Eine mitgefühlsorientierte Bildung und Erziehung ist eine, in der Fehler zugegeben werden können, unabhängig von der Person, die involviert ist, in der Entschuldigungen akzeptiert und Entschädigungen getätigt werden können und in der Vergebung möglich ist.

Liebe/ Fürsorge: Mitgefühl ist eng mit dem Wert von Liebe bzw. Fürsorge verbunden. Für andere zu sorgen, und dabei nichts im Gegenzug dafür zu erwarten, ist eine zentrale Motivation für viele pädagogische Fachkräfte und eine Grundlage ihrer beruflichen Identität. Andere darin zu fördern, sie selbst zu sein und zu werden, folgt der Erkenntnis, dass Menschen sich entfalten, wenn sie wertgeschätzt werden. Liebe/ Fürsorge stärkt das Bewusstsein für Identität und Zugehörigkeit und fördert Teilhabe. Die Bereitschaft, für andere zu sorgen und umgekehrt von anderen umsorgt zu werden, ist eine Grundlage dafür, Gemeinschaften zu gründen, die durch Kameradschaftlichkeit und gemeinsame Aktivitäten verbunden sind. Für pädagogische Fachkräfte kennzeichnet der Wert ‚Liebe’ bzw. ‚Fürsorge’ jedoch eine asymmetrische Beziehung. Es gehört zu den professionellen Pflichten pädagogischer Fachkräfte, für alle Kinder und junge Menschen in ihren Einrichtungen zu sorgen, ohne dass diese sich mit Dankbarkeit, Nähe oder Lernfortschritten erkenntlich zeigen.

Optimismus/ Hoffnung: Optimismus und Hoffnung sind Werte, die sowohl als professionelle Pflicht von Fachkräften wie auch als persönliche Pflicht von Eltern gelten können: Erwachsene sollen das Bewusstsein vermitteln, dass persönliche, lokale, nationale und globale Barrieren und Schwierigkeiten verringert werden können. Dazu gehört auch, anderen zu zeigen und sie darin zu ermutigen, dass Menschen in ihrem eigenen Leben und im Leben Anderer Veränderungen vornehmen können, lokal und global. Das bedeutet nicht, dass wir die Realitäten der Welt ignorieren und nur auf die ‚schöne Seite des Lebens’ schauen. Optimismus und Hoffnung erfordern die Bereitschaft, sich mit der Realität auseinander zu setzen, um gemäß bestimmter Prinzipien handeln zu können. Klarheit über inklusive Werte kann eine Handlungsorientierung bieten, und diejenigen miteinander in Verbindung bringen, die ähnliche Werte haben, aber unterschiedlichen Bezeichnungen für ihre Aktivitäten gebrauchen. Das kann die kollektive Kraft erhöhen, um dem enormen Ausgrenzungsdruck entgegen zu wirken, der lokal und global existiert und eine Veränderung zugunsten der Menschen und des Planeten möglicher werden lässt. Folglich unterstützt Hoffnung die Möglichkeit einer nachhaltigen Zukunftsentwicklung, in der Menschen sich entfalten können.

Schönheit: Die Beschäftigung mit Schönheit ist die letzte Ergänzung zu dieser Auflistung und mag am wenigsten umstritten sein, da es auf der Hand liegt, dass Schönheit in Auge und Seele desjenigen Betrachters/derjenigen Betrachterin liegt, der/die sie wahrnimmt. Es liegt auch auf der Hand, wie unterdrückend und ausgrenzend die Vermarktung bestimmter Schönheitsideale für viele Menschen ist. Aber es ist Teil dieser Auflistung, weil ich viele Jahre lang auf diese Weise meine persönlich größten Errungenschaften beschrieben habe oder stark motivierende Begegnungen, die ich selbst hatte oder im Bildungsbereich beobachtet habe. Ich habe diesen Punkt auch nur mit wenigen diskutiert, bevor ich ihn in mein Werte-Raster aufgenommen habe. Ich bin von dem Gedanken motiviert worden, dass ich ein Set von Ideen oder ein Lehrwerk schaffen könnte, das Kohärenz, Stimmigkeit und Auftriebe geben kann, anstatt die Gemüter der Menschen zu beschweren. Ich sehe Schönheit in bedingungslosen Handlungen der Liebenswürdigkeit, in wertvollen Begebenheiten, in denen Kommunikation über Eigeninteressen hinausgeht, in kollektiven Handlungen und Unterstützung, um Rechte einzufordern, und dann, wenn Menschen ihre Stimme finden und nutzen. Schönheit ist da, wenn jemand etwas liebt, das er/ sie oder jemand anderes erschaffen hat, in einer Wertschätzung von Kunst und Musik. Inklusive Schönheit ist abseits von Stereotypen in der Vielfalt der Menschen und in der Vielfalt der Natur zu finden.

Die Überarbeitung des Index für Inklusion im Lichte inklusiver Werte

Entwicklung ist Veränderung in Übereinstimmung mit einem kohärenten Set von Werten. Obwohl die Werte, die einem verbesserten, weiter entwickelten Schul- oder Bildungssystem zugrunde liegen, selten explizit gemacht werden, können wir nicht wirklich verstehen, was Verbesserung oder Entwicklung bedeutet, solange die Verbindung zu ihnen nicht hergestellt wird. Für diejenigen, die Anliegen wie die inklusiven Werte unterstützen, die ich dargelegt habe, ist Entwicklung durch das Ausmaß bestimmt, in dem diese Werte in die Praxis umgesetzt sind.

Im Jahr 2000 haben Kolleg_innen und ich die erste Version des „Index für Inklusion: Lernen und Teilhabe in Schulen entwickeln“ (Booth und Ainscow 2002, 2006) veröffentlicht und nachfolgend Versionen für die Arbeit mit sehr jungen Kindern (Booth, Ainscow und Kingston 2006). Der Index für Inklusion ist eine Zusammenstellung von Arbeitshilfen, um Bildungseinrichtungen darin zu unterstützen, ihre Einrichtungskulturen, Grundsätze und Praxen zu überprüfen und sie so zu verändern, dass das Lernen und die Teilhabe von Kindern und jungen Menschen erhöht wird, ebenso wie die Teilhabe der Erwachsenen, die mit ihnen arbeiten, und die Beteiligung von Familien und Communities an Erziehung und Bildung. Der Prozess der Reflexion, Planung und Durchführung zielt darauf ab, Erwachsene, Kinder und ihre Familien einzubeziehen, so dass der Prozess der Arbeit mit dem Index für Inklusion selbst zu einer inklusiven Entwicklung beiträgt. Während der Index ursprünglich auf die Vielfalt des englischen Kontexts eingestellt war, wurde er in ungefähr vierzig anderen Ländern übersetzt und für den dortigen Gebrauch adaptiert. Es scheint, dass die (dem Index inne liegende) Verbindung von Werten und Handlungen Menschen in die Lage versetzt, den Index für spezifische Lebenslagen zu adaptieren, die von weitaus größerer Kontextvielfalt sind als dies ursprünglich von uns ins Auge gefasst wurde.

Entwicklung findet nach dem Index entlang der Dimensionen von Kulturen, Grundsätzen und Praxen statt. Die Erfahrung mit dem Einsatz des Index in zahlreichen Bildungseinrichtungen in vielen Ländern bestätigt, dass diese Dimensionen weithin als wichtig erachtet werden, um die Einrichtungsentwicklung zu strukturieren. Es beziehen sich diese Dimensionen zwar auf bestimmte Merkmale von Einrichtungen, doch die Leitlinien einer Einrichtung wie auch ihre Kultur bekommt man nur über Hinweise zur Praxis zu fassen. Zu den Dimensionen haben wir jeweils eine Reihe von Indikatoren oder Entwicklungsbedarfe ausgearbeitet. Jeder Indikator ist präzisiert durch eine Reihe von Fragen, die dazu auffordern, nach Anhaltspunkten zu suchen, um festzustellen, inwieweit der Indikator beschreibt, was in der Einrichtung geschieht.

Wenngleich alle drei Dimensionen für inklusive (Qualitäts-) Entwicklung notwendig sind, ist die Schaffung von inklusiven Kulturen die grundlegendste. In der Vergangenheit wurde dem Potential von Einrichtungskulturen, Entwicklung zu unterstützen oder zu unterminieren, zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die Entwicklung von geteilten inklusiven Werten und kollaborativen Beziehungen, die für die Stärkung von inklusiven (Schul-) Kulturen von integraler Bedeutung ist, mag zu unvorhergesehenen Veränderungen in den anderen (zwei) Dimensionen führen.

Kulturen sind relativ fortbeständige Lebensformen, die Gemeinschaften von Menschen schaffen und durch sie erschaffen werden. Kulturen finden ihren Ausdruck in Sprache und Werten, in miteinander geteilten Geschichten, Geschichtsschreibung, Wissen, Fertigkeiten, Ansichten, Texten, Kunst, Kunstgegenständen, formalen und informellen Regeln, in Ritualen, Systemen und Institutionen. Sie etablieren ein kollektives Bewusstsein darüber, wie das Leben gelebt werden sollte. Sie tragen zur Identitätsbildung bei, so dass Menschen in Handlungen der Gruppe sich selber reflektiert sehen und von ihnen bestärkt werden. Die Identifikation mit den Handlungen einer Gruppe motiviert dazu, an neue Mitglieder weiterzugeben, wie etwas innerhalb der Gruppe getan wird. Kulturen reflektieren die unterschiedlichen ebenso wie die gemeinsamen Einflüsse, die auf Menschen einwirken, und bilden Netzwerke von sich überschneidenden Sub-Kulturen. Kulturen mögen Machtunterschiede gewähren, verstärken oder bekämpfen. Die relative Fortbeständigkeit von Kulturen macht die Entwicklung von Gemeinschaften, Institutionen und Systemen möglich und problematisch gleichermaßen. Es sind die Kulturen, durch die Veränderung möglich, aber auch abgewehrt wird.

Kulturen enthalten explizite oder implizite Regeln, mit denen Gäste, Externe und potentielle neue Mitglieder identifiziert und angesprochen werden. Inklusive Kulturen ermutigen die Anerkennung dessen, dass eine Vielfalt an Lebensweisen und Identitäten ko-existieren kann, dass Kommunikation zwischen ihnen bereichernd ist und erforderlich macht, dass Machtunterschiede beiseite gelegt werden. Wenn die Aktivitäten einer Gruppe unflexibel werden, mag jegliche Veränderung durch Mitglieder der Gemeinschaft als Identitätsverlust erfahren und abgewehrt werden. Inklusive Kulturen sind offen für neue Mitglieder und daher auch bereit für Veränderung. Solange kulturelle Veränderungen innerhalb von Schulen oder anderen Einrichtungen nicht angesprochen werden, sind die Möglichkeiten für die Entwicklung pädagogischer Qualität sehr begrenzt. Deshalb kann die systematische Planung und Implementierung, die aus der Auseinandersetzung mit dem Index für Inklusion erwachsen kann, nur dann nachhaltig werden, wenn diese aus einer Veränderung der Kultur erwächst und durch sie ergänzt wird, was die fortlaufende Übernahme gemeinsam geteilter Werte umfasst.

Die Erarbeitung des Rahmens für inklusive Werte hat im Index eine Anzahl weiterer Indikatoren und viele neue Fragen zu Inklusion angeregt. Die Ergänzungen sind auch vorgeschlagen worden aus dem Wunsch heraus, dass man die vielen Aktivitäten im Bildungsbereich zusammen bringt, die gemeinsame Werte teilen, jedoch unter unterschiedlichen Namen diskutiert werden, wie ich zu Beginn des Artikels/ Vortrags ausgeführt habe. Drittens ist die neue Version in Einklang mit den Änderungen an der Index-Version für frühkindliche Bildung gebracht worden. In der neuen Version wird ein Schwerpunkt auf ökologische Nachhaltigkeit gelegt, mit dem Ziel, pädagogische Fachkräfte darin zu unterstützen, die drängendsten Themen unserer Gesellschaften anzugehen. Zusätzliche Indikatoren sind als Entwurf in Abbildung 1 dargestellt.

Was in den Diskussionen über Inklusion und Integrationspädagogik ähnlich ist: es fehlt das, was in Schulen gelehrt wird bzw. was gelehrt werden sollte. In England scheint die Präsenz eines nationalen Lehrplans die Debatte über diese wichtigen Sachverhalte eingeschränkt zu haben. Ich habe erneut vor Kurzem darüber nachgedacht, wie inklusive Curricula, die eine Wertschätzung von Rechten, Internationalisierung und Verantwortung gegenüber der Umwelt anstreben, um eine kleine Anzahl von gemeinsamen Oberbegriffen gruppiert werden könnten, die etwas mit Nahrung, Wasser, Wohnverhältnissen, Energie, Kunst/ Musik, Gesundheit/ Wohlbefinden und Arbeit zu tun haben. Ich hoffe, dass die neue Version des Index dazu beitragen wird, über internationale Prinzipien für Lehrplan-/ Rahmenplanentwicklung zu debattieren.

Die Entwurfsversion eines Indikators und zugehöriger Fragen zu Bürgerschaft ist in der Abbildung 2 dargestellt. Wir werden die Bildungseinrichtungen stärker ermutigen, explizite Diskussionen über Werte in der Praxis zu führen und ihre eigenen Orientierungsrahmen in den Worten beschreiben, die starke Bedeutung innerhalb ihrer Communities haben. Da Menschen sich mit meinem Werterahmen auseinander setzen und ihre eigenen Werterahmen erarbeiten, werden sie, so glaube ich, von den detaillierten Implikationen überrascht sein, die sich daraus für die Zukunft ihrer Schulen und ihrer Bildungssysteme ergeben.

Schlussbemerkungen: Eingreifen in Praxisentwicklung als eine Einladung zum Dialog

Wenn ich Leuten erzähle, dass ich in ein anderes Land reise, um die Entwicklung pädagogischer Arbeit zu diskutieren oder Ideen über die Werte zu teilen, die Bildung und Erziehung zugrunde liegen sollten, dann werde ich regelmäßig gefragt, ob ich denke, dass meine Ideen in einem anderen kulturellen Kontext Anwendung finden können. Solche Fragen entstehen aus der Annahme, dass die jeweilige Geschichte von Bildung und Erziehung in egal welchem Teil der Welt lediglich Einflüsse aus dem eignen Kontext erkennen lasse. Ich bin mir dessen bewusst, dass ich eine Stimme mit relativ wenig Macht, unter vielen Einflüssen rund um den Globus bin. Manche starken Stimmen, wie die, die manchmal von der Weltbank stammen, mögen nahelegen, dass die Entwicklung pädagogischer Arbeit/ Qualität durch einen internationalen Konsens erfolgt, der von Regierungen adaptiert und implementiert wird, und zwar durch zentrale politische Maßnahmen, die wiederum die Aktivitäten von Schulen steuern. Meine Vorstellung von Entwicklung ist eine demokratischere, sie erwächst aus Einladungen zum Dialog und aus dem Engagement in Dialogen über Entwicklung. Ich sehe dies als einen Prozess, der auf allen Ebenen unserer Systeme wieder und wieder stattfinden kann.