Petra Wagner, Leitung Fachstelle KINDERWELTEN für Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung, Direktorin ISTA/ INA gGmbH

  1. Was bedeutet Inklusion? Im Bildungsbereich sind es Maßnahmen gegen Exklusion durch Wertschätzung der Heterogenität von Kindern und Familien und das Wahrnehmen und Abbauen von Barrieren, die den Zugang zu Bildung behindern. Problematisiert werden soziale Ungleichheit und Bildungsbenachteiligung als Ergebnis des Ausschlusses von Kindern und Familien auf Grund bestimmter Merkmale (= Tatbestand der Diskriminierung).
  2. Inklusion ist aufs Engste mit Partizipation verknüpft. Nehmen wir z.B. das Zitat aus der Deutschen UNESCO Kommission von 2010, das unsere Kollegin Annika Sulzer in ihrem Vortrag bei der Tagung im vorigen Jahr erläutert hat: „Inklusion wird als ein Prozess verstanden, bei dem auf die verschiedenen Bedürfnisse von allen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen eingegangen wird. Erreicht wird dies durch verstärkte Partizipation an Lernprozessen, Kultur und Gemeinwesen, sowie durch Reduzierung und Abschaffung von Exklusion in der Bildung. (…)“ (DUK 2010, S.9)
  3. Es geht also bei der Inklusion nicht nur darum, die Türen einer Einrichtung zu öffnen. Dass alle „da“ sind, ist zwar eine wichtige Voraussetzung für inklusive Prozesse, ermöglicht sie aber nicht automatisch:

    – „Dabeisein ist nicht alles“ heißt eine Publikation von Kreuzer/Ytterhus (2008), in der dargestellt wird, dass es Kindern mit Behinderungen und Beeinträchtigungen teilweise nicht gut geht in den Gruppen mit Kindern ohne Behinderung – dann nämlich, wenn das Zusammensein nicht moderiert oder modelliert wird, von den Erwachsenen.

    – Das deckt sich mit Ausführungen von Louise Derman-Sparks, die immer wieder betont, dass alleine das Zusammensein von Kindern mit unterschiedlichen Familienkulturen nicht zu einer „kulturellen Demokratie“ führt in dem Sinne, dass explizit die Verschiedenheit von Lebensentwürfen und Kommunikationsstilen akzeptiert wird.

    – Aus Genderperspektive lässt sich dies im Hinblick auf die Koedukation von Jungen und Mädchen bestätigen.

    Ohne bewusste Gestaltung – wir würden sagen: ohne vorurteilsbewusste Gestaltung der Interaktion und der Alltagsroutinen – führt sie im Gegenteil häufig dazu, dass sich die Dominanzkultur durchsetzt, trotz vielfältiger Zusammensetzung der Gruppen. (Es ist der Grund, warum im Ansatz der Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung dem Diktum von „idealen“ Gruppenzusammensetzungen widersprochen wird: Die Zusammensetzung alleine führt nicht zu einer bestimmten Qualität der pädagogischen Praxis. Gerade inklusive Qualität will erarbeitet, will bewusst gestaltet sein. Das gilt für jede Gruppe, unabhängig von ihrer Zusammensetzung.)
  4. Nötig sind über das „da-sein“ hinaus Zugehörigkeit und Beteiligung. Wir haben darüber Vieles geschrieben, insbesondere über Zugehörigkeit: Sie steht im Kern des ersten von vier Zielen im Ansatz der vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung, in dem es heißt, jedes Kind solle in seiner Identität gestärkt werden: Gemeint ist seine personale Identität, die sich zusammensetzt aus seiner individuellen Unverwechselbarkeit und seinen sozialen Identitäten, als Mitglied sozialer Gruppen, die man selbst wählt oder die einem zugeschrieben werden. Bereits für ganz junge Kinder wird hier wesentlich, welche Merkmale ihrer Person als Hinweise auf soziale Identitäten gedeutet werden und welche Zuschreibungen und Erwartungen sich damit verknüpfen: Es sind Hinweise auf ihr Geschlecht, ihre ethnische Herkunft, ihre Familienkultur, ihre soziale Schicht usw., die ihrem Aussehen, ihren körperlichen Merkmalen, ihrem Namen, ihrer Bekleidung usw. entnommen werden und die einfließen in die Resonanz, die sie erhalten.

    Im Ansatz der Vorurteils Bewussten Bildung und Erziehung wird betont, wie wichtig es für Bildungsprozesse von Kindern ist, dass sie eine positive Resonanz auf sich als Person erhalten. Eine positive Resonanz ist entscheidend für kindliches Wohlbefinden, für einen Zustand, in dem man genügend Sicherheit und Zutrauen in sich selbst, in die anderen, in die Situation hat, um sich lernend und neugierig (= engagiert) auf das einzulassen, was die Situation an Neuem bietet.

    Ansatz der Vorurteils Bewussten Bildung und Erziehung gehört dazu als didaktisches Prinzip für die pädagogische Praxis, für Widerspiegelungen der kindlichen Identität zu sorgen. Das Kind soll sich in der Kita wieder erkennen können, mit seinem Geschlecht, seinen körperlichen Merkmalen, mit seinem Namen, seiner Familie und Familienkultur, auch mit seiner Weltsicht, seinen Interessen, seinen Werken, seinen Erkenntnissen und Fähigkeiten. Es soll signalisiert bekommen: Ja, du bist da, du bist hier richtig, du bist willkommen und deine Familie ebenso!

    ErzieherInnen haben in den letzten Jahren auf sehr vielfältige Weise dieses Prinzip lebendig gemacht, haben aus ihrer Nähe zu den Kindern, aus ihrem Wohlwollen für sie und ihrer Freude an Lernprozessen der Kinder sehr kreative Wege gefunden, um kindliche Identitäten zu stärken.
  5. Das Pendant zur Zugehörigkeit ist Beteiligung. Die Botschaft „Du bist hier richtig!“ muss ergänzt werden um die Einladung, das Ganze mit zu gestalten, mit zu wirken: „Du bist hier wichtig! Deine Stimme ist wichtig wie die der anderen! Wie brauchen deine Gedanken, Ideen, Meinungen, damit unsere Entscheidungen besser werden!“

    Auch hierfür gibt es wunderbare Beispiele, wie es ErzieherInnen gelungen ist, Kinder und Eltern zu beteiligen, indem sie ihre Einladungen an sie unmissverständlich formuliert haben (ein Vorgang, dem eine Werte-Entscheidung zugrunde liegt!) und Beteiligungsformen verändert haben, um sie für alle zugänglicher zu machen. Sie haben Zugänge ermöglicht, wo es sie vorher nicht gab, also Barrieren der Beteiligung erkannt und abgebaut – das ist Inklusion in der Praxis!
  6. Nach dem Bisherigen sage ich: Beteiligung/ Partizipation ist unverzichtbar, um Inklusion zu realisieren. Oder andersherum formuliert: An der Nichtbeteiligung von Kindern und Erwachsenen erkenne ich, dass Inklusion nicht verwirklicht ist.

    Partizipation eignet sich also als Prüffrage für Inklusion: Sind alle wirklich beteiligt? Habe ich dafür gesorgt, dass alle sich beteiligen können, auch wenn ihre Art und Weise der Beteiligung vielleicht eine andere ist als die Beteiligungsform, die ich mir vorstelle oder die ich vorgebe?

    Im Index für Inklusion (Booth u.a. 2010) ist Partizipation als Indikator für Inklusion systematisch eingebaut. Es heißt: „Inklusion wird behindert, wenn Kinder und Mitarbeiter der Einrichtung auf Barrieren in Bezug auf Spiel, Lernen und Partizipation stoßen.“ (ebd. 16)

    Als bedeutsame Barriere für Partizipation wird ausdrücklich Institutionelle Diskriminierung benannt, gemeint als Benachteiligung von Menschen aufgrund ihres Alters, Geschlechts, ihrer sozialen Schicht, ethnischen Zugehörigkeit und sexuellen Orientierung sowie aufgrund ihrer Bildung und Qualifikation „durch die Art und Weise, wie Einrichtungen strukturiert und geführt werden“ (ebd. 17) Institutionelle Diskriminierung, so der Index, schafft nicht nur Barrieren für Partizipation, sondern sie hat eine lernbehindernde Wirkung: „im Bildungsbereich beeinträchtigt sie das Lernen“ (ebd.) Sie verletzt daher das Kernanliegen der Inklusion, für Bildungsgerechtigkeit zu sorgen.

    Eine der Fragen im Index für Inklusion, die sich auf den Zusammenhang von Ausgrenzung und Partizipation bezieht, lautet: „Wird Ausgrenzung als ein Prozess verstanden, der beginnen kann, wenn die Partizipation von Kindern nicht gefördert oder wertgeschätzt wird, und mit dem Ausschluss von einer Einrichtung enden könnte?“ (ebd. 83)
  7. Während Inklusion nicht ohne Partizipation auskommt, kann Partizipation so angelegt sein, dass sie nicht inklusiv ist – auch mit bestem Wissen und Gewissen der Akteure. Einige Beispiele hierfür:

    – Landeselternvertretung ohne Eltern mit Migrationshintergrund: Der deutsche Vorsitzende sieht keinen Handlungsbedarf, denn alle seien demokratisch gewählt worden. Sich hier einzumischen, betrachte er als undemokratisch;

    – Widerstand oder Misstrauen gegenüber affirmative action Maßnahmen, die ja versuchen, die Folgen historisch angelegter Ausgrenzung auszugleichen, als „unfaire Bevorzugung“;

    – Hamburger Volksentscheid, mit dem die Verlängerung der Grundschulzeit von vier auf sechs Jahre abgelehnt wurde – aus Sorge um die Gymnasien und die leistungsstarken SchülerInnen. Die Position der Fraktionen der Bürgerschaft, dass ein längeres gemeinsames Lernen mehr Gerechtigkeit in das Schulsystem bringen würde, bekam keine Mehrheit.

    Prüffrage für Partizipation könnte also sein: Wie stelle ich sicher, dass ALLE beteiligt sind? Dass alle wirklich „da“ sind, die mitbestimmen sollten? Dass alle diejenigen, die „da“ sind, die realistische Möglichkeit haben, sich an gemeinsamen Entscheidungen zu beteiligen?

    Habe ich im Blick, wer die Entscheidungsprozesse trägt, sind es dieselben, die sich aktiv beteiligen und wie machen sie es? Sind es dieselben, die schweigen und weiß ich, aus welchen Gründen sie schweigen? Oder, wie es unsere Kollegin Seyran Bostancı in Vorbereitung einer anderen Veranstaltung, die wir durchgeführt haben, fragte: „Ist Partizipation das Vorrecht der Fähigen?“

    Solche Fragen geben der Partizipation eine inklusive Qualität – und damit einen wichtigen, wertebezogenen Inhalt, der für „wirkliche“ Partizipation aus unserer Sicht unverzichtbar ist, denn Partizipation ist kein Wert an sich – es kann eine Beteiligung an zutiefst inhumanen Vorgängen geben.

    Ihre inklusive Qualität besteht vordringlich darin, aufmerksam zu sein für die Gruppen, die in besonderer Weise von Ausgrenzung oder Ausschluss bedroht sind, „most vulnerable groups“ in der UN-Sprache. Partizipation, die gesellschaftliche Ungleichverhältnisse quasi reproduziert, indem diejenigen ausgeschlossen bleiben, die auch gesellschaftlich eher am Rande stehen, trägt zur Ungleichheit bei, denn sie fördert einseitig die Einflussnahme und die Fähigkeiten zur Durchsetzung ihrer Interessen durch diejenigen, die ohnehin ungehinderten Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen haben.

    Dass Partizipation kein Selbstzweck ist und kein Wert an sich, sondern im Dienste der Inklusion stehen muss, verfolgt auch der Index für Inklusion. Dort heißt es, zur Entfaltung „Inklusiver Kulturen“ gehöre es, „Inklusive Werte zu verankern“ (ebd. 72) Ein Indikator hierzu lautet: „Jeder, der mit der Einrichtung beschäftigt ist, beteiligt sich am Einsatz für Inklusion“ (ebd. 72) Damit hat die Beteiligung eine wertebezogene Richtung.
  8. Partizipation, die so angelegt ist, dass sie auf eine erhebliche Zahl von Stimmen verzichtet, folgt einem formalisierten Verständnis von Demokratie und Partizipation, das Machtungleichheiten und die Durchsetzung der dominanten Interessen und Sichtweisen nicht berücksichtigt oder reflektiert. Das liegt auch an der Besonderheit verinnerlichter Dominanz, die gerade darin liegt, dass sie den Ausschluss oder die Nicht-Beteiligung Anderer ignorieren kann – weil sie aus dominanter Sicht nicht unbedingt bemerkt wird.

    Wir wissen aus der vorurteilsbewussten Arbeit, dass eine bewusste Anstrengung vonnöten ist, um das zu sehen, was sich dominanter Sicht zunächst nicht erschließt. Das Ziel 3 im Ansatz Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung „Kritisch werden in Bezug auf Ungerechtigkeiten und Ausschluss“ fordert dazu auf, diese Anstrengung zu unternehmen, zunächst auf der Erwachsenenebene, um Kinder zum kritischen Denken über Unrecht ermutigen zu können.
  9. ErzieherInnen einer Kita in einer Gruppe mit 14 Kindern, von denen ein Teil Deutsch als Erstsprache hat und ein Teil eine andere Sprache als Deutsch, haben solche Anstrengungen unternommen und ihren Morgenkreis daraufhin untersucht, wer ihn vorantreibt mit seinen Beiträgen, wer die Entscheidungen anlegt. Sie stellten fest, dass die deutschsprachigen Kinder die Redeanteile bestimmen. Zufall? Barrieren für die zweisprachigen Kinder? Worin bestehen sie? Was könnte ihnen helfen, sich aktiver einzubringen? Fragen, die der kritischen Erkundung folgen…

    Und die nicht gestellt werden, wenn zuvor nicht verstanden wurde, dass Partizipation immer in konkreten Machtverhältnissen angesiedelt ist und ohne deren Berücksichtigung nicht analysiert und auch nicht verstanden werden kann.

    So betrachtet, ist gelingende Partizipation ein voraussetzungsvoller Prozess: Vieles muss in einer Erziehungs- und Bildungseinrichtung geschehen und zugesichert sein, damit Beteiligung in einer Gruppe möglich ist.

    Die „Bringeschuld“ wieder nur den Individuen zu geben, verträgt sich nicht mit dem Paradigmenwechsel, den Inklusion anmahnt, indem gesagt wird, die Institutionen müssen so verändert werden, dass sie für die Menschen passen – und nicht länger umgekehrt, dass ausschließlich die Menschen sich an die vorgegebene Institution anzupassen hätten.
  10. Ein Verständnis von „Partizipationskompetenzen“, mit dem die Vorstellung verbunden ist, Menschen müssten sich in einer nicht-partizipativen Lernschleife irgendwie fit machen für die Partizipation, müssten sich sozusagen von sich aus als der Partizipation „würdig“ erweisen, verkennt die Tatsache, dass man Beteiligung – und damit Partizipationskompetenzen – nicht anders lernt als dadurch, dass man beteiligt wird. Insbesondere Kindern und Jugendlichen wird Partizipation vorenthalten mit dem Verweis darauf, sie seien für Beteiligung noch „zu jung“, „zu unreif“, “zu unerfahren“ oder „nicht aus der richtigen Familie“. Dieser Ausschluss – in der Literatur als „partizipationsabwehrende Muster“ bezeichnet (BJK 2009, 16)- verweist auf das spezifische Machtverhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern, das im Ansatz der VBuE kritisch auf Adultismus hin hinterfragt wird.

    Was muss gewährleistet sein, damit die Partizipation von Kindern gelingt? Worauf gründet sie bei jungen Kindern? Und bei Erwachsenen? Worin zeigt sich ihre inklusive Qualität? Mit diesen Fragen haben wir uns im Vorfeld der heutigen Tagung beschäftigt und wollen Sie/ euch an ihrer Reflexion und Diskussion beteiligen.

    – Wir beginnen mit den jüngsten Kindern: Michael Priebe wird mit seinem Beitrag aufzeigen, was Partizipation mit Selbstbestimmung zu tun hat und wie Selbstbestimmung schon Krippenkindern zugestanden – oder auch verwehrt werden kann.

    – Nach der Mittagspause führt Ute Enßlin am Fallbeispiel einer Dyade Erzieherin-Kind aus, wovon Partizipationsprozesse in Gruppen begleitet sind: Von Interaktionen zwischen ErzieherInnen und Kind, in der die Erwachsenen ihre „Partizipationskompetenzen“ zeigen. Es sind Fähigkeiten im Wahrnehmen dessen, was das Kind will und im Sich-Einspielen darauf, wozu auch eine bestimmte Alltagsorganisation gehört, um auf Besonderheiten einzugehen, ohne das Kind zu „besondern“.

    – Seyran Bostancı und Anja Jungen fokussieren die Frage der Inklusion bei Beteiligungsprozessen in Gruppen von Kitakindern und Schulkindern, anhand von Filmausschnitten, die unterschiedliche Beteiligungs-Settings und -formen zeigen.
  11. Inklusion wie auch Partizipation sind verbriefte Rechte und keine freiwillige Leistung. Sie problematisieren Exklusion und Nichtbeteiligung als nicht hinnehmbares Demokratiedefizit. Dennoch gibt es bei der Inklusion wie auch bei der Partizipation erhebliche Differenzen zwischen Rechtsanspruch und Rechtswirklichkeit. Das liegt daran, dass sie Visionen beschreiben und nicht bereits die gesellschaftliche Wirklichkeit sind. So wie die Tatsache, dass „Demokratie stets unvollkommen“ ist, wie Annedore Prengel sagt, uns zum unablässigen Einstehen für demokratische Verhältnisse auffordert, so geben uns Inklusion und Partizipation auf, dafür auf den unterschiedlichen Handlungsebenen zu sorgen. Neben der Ebene der Strukturen des Bildungssystems und der institutionellen Ebene der Erziehungs- und Bildungseinrichtungen ist es auch die Ebene unseres fachlichen Handelns und Denkens. Dann sieht Annedore Prengel in inklusiver Frühpädagogik das Potential, „Schritte zur Demokratisierung in der Bildung gehen.“