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Soziale Bezugsgruppen in der kindlichen Identitätsentwicklung und ihre Bedeutung für eine Pädagogik der Inklusion

Louise Derman‑Sparks

Häufig werde ich gefragt: „Was haben Säuglinge und Kleinkinder mit Einseitigkeiten, Vorurteilen oder sozialer Ungleichheit zu tun?“ Es scheint, als würde beides nicht zusammen passen. Es ist aber notwendig, dass wir den Zusammenhang erkennen. Vorurteile, einseitige Vorstellungen und soziale Ungleichheit dringen auf vielfältige Art und Weise in das Leben von Kindern und Säuglingen und gefährden ihre gesunde Entwicklung. Insbesondere die institutionalisierten und interpersonellen Dynamiken von Rassismus, Klassendenken, Sexismus und heteronormativen Vorstellungen beeinträchtigen die gesunde Identitätsentwicklung von Kindern, die sie brauchen, um sich in der Schule und der Welt entfalten zu können. Diese Dynamiken behindern auch unsere Möglichkeiten Kinder professionell und optimal in ihrer Entwicklung und ihrem Lernen zu fördern. Und sie verletzen die Rechte der Kinder, wie sie in der UN‑Kinderrechtskonvention definiert sind (UNICEF 1990).

In meinem Vortrag heute möchte ich mit Ihnen folgende Themen vertiefen. Zuerst werde ich ein zentrales Konzept der vorurteilsbewussten, inklusiven Pädagogik, das der „Sozialen Bezugsgruppen‑Identität“ diskutieren. Dann werde ich kurz auf gesellschaftliche Mechanismen von Benachteiligung und Privilegierung eingehen, die Kinder bei der Entwicklung ihrer Wahrnehmung von sozialen Bezugsgruppen‑Identitäten beeinflussen. Und schließlich werde ich Strategien vorstellen, wie wir die jüngsten Kinder optimal unterstützen können.

Ein Wort zu Begrifflichkeiten. In den USA gebrauchen wir den Begriff anti‑bias education. Wir wählen diesen Begriff, weil er deutlich macht, dass es nicht ausreicht, Vielfalt anzuerkennen. Es braucht auch die Zurückweisung und Abschaffung von Vorurteilen und Abwertung. Kinderwelten hat in Deutschland den Begriff der inklusiven vorurteilsbewussten Pädagogik gewählt. Beide Begriffe bezeichnen dieselbe grundlegende Perspektive sowie Werte und Ziele. Für meine Präsentation habe ich entschieden “inklusive Pädagogik” oder „vorurteilsbewusste, inklusive Pädagogik“ oder Anti‑Bias Education synonym zu verwenden.

Soziale Gruppenidentitäten

In der traditionellen frühkindlichen Bildung wurde Identität und Selbst‑Konzept als eine einheitliche, individuelle Dimension betrachtet, die sich vorwiegend durch interpersonelle Interaktion eines Kindes mit seinen primären Bezugspersonen und in seiner erweiterten Familie entwickelt. Man ging davon aus, dass mit dem Eintritt in die Schule auch Gleichaltrige und Lehrkräfte die Identitätsentwicklung von Kindern beeinflussen. Es war William Cross (1991), der mit seiner bahnbrechenden Analyse von Studien zur Afro‑Amerikanischen Identitätsentwicklung überzeugend darlegte, dass Selbstkonzepte immer auch eine gesellschaftliche Komponente haben. Er unterschied zwei Aspekte des Selbstkonzepts, die „personale Identität“ einerseits und die „soziale Bezugsgruppenorientierung“ andererseits. Er nutzte diese beiden Kategorien, um die bisherigen Annahmen über die Wirkungen von Rassismus auf die Afro‑Amerikanische Identitätsentwicklung in Frage zu stellen. Anstelle von Bezugsgruppenorientierung verwende ich den Begriff der sozialen Gruppenidentität. Er ist zentral für inklusive Pädagogik. Üblicherweise wird darauf fokussiert, Kinder in ihrer Individualität zu stärken. Die Bestärkung von Kindern in ihren sozialen Gruppenidentitäten ist genauso wichtig.

Jeder Mensch bildet mehrere soziale Identitäten aus. Sie setzen sich zusammen aus ethnischer Identität , Geschlecht, Religion, Sprachen, sozio‑ökonomischen Verhältnissen, Familienstruktur, sexueller Orientierung und Fähigkeiten, wie sie von der jeweiligen Gesellschaft definiert sind, in der die Menschen leben. Soziale Identitäten verbinden Menschen mit größeren Gruppen, die über die Familien hinausgehen. Soziale Identitäten sind historisch, politisch und oft juristisch definiert. Jede soziale Gruppenidentität ist mit gesellschaftlich definierten Vorteilen und Nachteilen verbunden. Und sie ist mit gesellschaftlich verbreiteten und oft rechtlich gebilligten Stereotypen, Vorurteilen und Diskriminierungen verbunden.

Soziale Identitäten spielen eine große Rolle dabei, wie ein Individuum von Anderen gesehen und behandelt wird. Sie beeinflussen den Zugang zu gesellschaftlichen Institutionen (Bildungs‑ und Gesundheitssystem, Justiz). Soziale Identitäten bestimmen zwar nicht gänzlich unser Leben, aber sie begünstigen oder behindern den Zugang zu Chancen und Ressourcen. Sie beeinflussen unseren Glauben an die eigenen Fähigkeiten und Grenzen und machen eine erfolgreiche Lebensbewältigung leichter oder schwerer. Gleichzeitig sind die gesellschaftlichen Definitionen und Nachteile, die mit bestimmten sozialen Identitäten verbunden sind, nicht unveränderlich. Bewegungen für soziale Gerechtigkeit sind ein wichtiger Motor für diesbezügliche Veränderung. Ein Beispiel aus den USA ist das kürzlich verabschiedete Gesetz, das Schwulen, Lesben, Transgender oder Bisexuellen gestattet zu heiraten und die damit verbundenen Ehevorteile zu erhalten. Es kommt vor, dass der subjektive Umgang mit der eigenen Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Identitäten nicht mit der gesellschaftlichen Realität von Privilegien und Benachteiligungen übereinstimmt. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn soziale Diskriminierung und negative Botschaften über die Zugehörigkeit zur „Arbeiterklasse“ eine Person nicht daran hindern, stolz auf ihren familiären Hintergrund zu sein. Säuglinge beginnen am Ende ihres ersten Lebensjahres, ihre soziale Identität auszubilden. Untersuchungen zeigen, dass Babys Charakteristika wie Hautfarbe ab dem sechsten Lebensmonat bemerken (Beonson & Merryman, 2009). Im Alter von zwei Jahren zeigen Kinder Anzeichen davon, dass sie sozial vorherrschende Botschaften über Hautfarben aufgenommen haben, wonach helle Hautfarbe besser bewertet wird als dunkle Hautfarbe. Geschlecht ist eine andere soziale Gruppenidentität, die sich sehr früh ausbildet. Von Geburt an unterscheiden sich in vielen Familien die Erwartungen, das Verhalten und sogar die Vorlieben für bestimmte Familienmitglieder signifikant nach Geschlecht. Die meisten Zweijährigen können sagen „Ich Junge!“ oder „Ich Mädchen!“, obwohl sie erst ein anfängliches Verständnis davon haben, was geschlechtliche soziale Identität alles umfasst. Zu Beginn des Vorschulalters haben Kinder ein grundsätzliches Bewusstsein für Geschlecht, „Rasse“ , Kultur und Fähigkeiten konstruiert.

Die Identitätsentwicklung junger Kinder wird von vielen sozialen Akteuren beeinflusst. Sie konstruieren ihre soziale Gruppenidentität aus Informationen, die sie vielen unterschiedlichen Quellen entnehmen, innerhalb wie außerhalb der Familie. Die Medien spielen eine Schlüsselrolle bei der Verbreitung vorherrschender Vorurteile oder korrigieren auch Bilder und Botschaften über verschiedene soziale Gruppenidentitäten. Die Spielzeugindustrie, Hersteller für Lernmaterial, Verlage, Hersteller von Kleidung‑ und Grußkarten sind ebenfalls beteiligt. Auch der Bereich der Frühkindlichen Bildung und Erziehung selbst beeinflusst direkt und indirekt die sozialen Identitätskonstruktionen von Kindern. Dazu gehören unsere Vorstellungen über kindliche Entwicklung und das, was best practice sei, auch die Fachverbände und Publikationen, auch die Ausbildung von Pädagog_innen. Und natürlich haben die Erzieher_innen und Pädagog_innen, die die Vorstellungen von Frühkindlicher Erziehung in die Praxis umsetzen, einen direkten Einfluss auf das Ausbilden von Identitäten. Kenneth Clark (1963), ein Vorreiter in der Erforschung von kindlichen Identitätskonstruktionen in Bezug auf ihre rassifizierten Identitäten und Haltungen, hat dargelegt, dass sie nicht nur aus dem Kontakt mit realen Menschen resultieren, sondern mindestens ebenso aus dem Kontakt mit „gesellschaftlich vorherrschenden Einstellungen“. Kinder lernen Vorurteile über Menschen, die anders sind als sie selbst, auch ohne direkten Kontakt zu ihnen.

Das Konzept der Konstruktion sozialer Identitäten bringt soziale, politische und ökonomische Machtverhältnisse und gesellschaftliche Ideologien in die Diskussion darüber ein, wie Kinder ein Verständnis davon entwickeln, wer sie sind. Wie eine Anti‑Bias Praktikerin ausdrückte: „Die Arbeit nach Anti Bias hat mich gelehrt, jedes Kind zu respektieren, nicht nur als Individuum, sondern als eine Person, die Teil der Gesellschaft ist“. Somit wird die Gesellschaft selbst Teil der Identitätskonstruktionen von Kindern, mit vielen Widersprüchen. Auf der einen Seite liegt es im Interesse einer Gesellschaft, für alle Kinder optimale Entwicklungsmöglichkeiten zu gewährleisten. Auf der anderen Seite beschränken gesellschaftliche Ungleichheiten systematisch diese optimale Entwicklung.

Wie gesellschaftliche Verhältnisse soziale Identitäten beeinflussen

Viele gesellschaftliche Dynamiken beeinflussen, wie ein Kind seine sozialen Identitäten konstruiert. Ich möchte hier auf vier davon eingehen.Wer kümmert sich um die Säuglinge?

Den größten Teil der Menschheitsgeschichte kümmerten sich die Eltern und Großfamilien um die Kinder und Kleinkinder. In vielen Kulturen waren die Babys sehr nah bei ihren Müttern, wurden vor ihrer Brust getragen, so dass sie den Herzschlag der Mutter hören konnten. Wenn sie größer wurden, wurden sie auf dem Rücken getragen. Sie bekamen als Nahrung bis ins Kleinkindalter hauptsächlich Muttermilch. All dies hat sich verändert, als die Industrialisierung die vorherrschende Produktionsform wurde. Als Menschen in städtische Gebiete zogen, wurden Großfamilien auseinander gerissen. Frauen aus Familien mit wenigen ökonomischen Ressourcen mussten sich Arbeit außerhalb ihrer Wohnungen suchen, was dann wiederum eine Betreuung für ihre Kinder notwendig machte. Das waren in der Regel Familienangehörige, wie zum Bsp. eine Großmutter oder Geschwister oder vielleicht auch die Nachbarn. In diesen Fällen waren die Sozialisationsmuster meist ähnlich wie bei der Mutter des Kindes.

Frauen aus reicheren Familien übergaben ihre Kinder in die Obhut von Kindermädchen oder Gouvernanten – sie waren Bedienstete und kamen meist aus Gruppen, deren Status in rassifizierter, ethnischer und ökonomischen Hinsicht von der Familie als unterlegen angesehen wurde. In den USA waren die Betreuerinnen im nördlichen Teil des Landes meist sehr jung, arm, häufig irischer Herkunft, im Süden waren die Betreuerinnen zuerst versklavte Frauen aus Afrika und später arme afro‑amerikanische Frauen. Während die Kinder die meiste Zeit des Tages von jemand anderem betreut wurden, kamen die Erziehungsvorstellungen und Verhaltensvorschriften von den Familien selbst – nämlich denjenigen, die die Betreuer_innen anstellten und entließen. (Natürlich färbten einige Erziehungsvorstellungen und Vorgehensweisen der Betreuer_innen auch ab. Ein Beispiel sind die Lebenserinnerungen von Weißen Südstaatler_innen, die von Afro‑Amerikaner_innen großgezogen wurden und sich an diese als die wärmsten und beständigsten Bezugspersonen erinnern, obwohl sie als unterlegen angesehen und behandelt wurden.)

Springen wir in die heutige Zeit: In manchen Fällen kümmern sich immer noch andere Personen als die Mütter um die Kleinkinder, und manche reiche Familien in den USA haben Kindermädchen – je nach Einkommen der Familie entweder arme, unausgebildete Frauen, häufig aus Lateinamerika, oder „ausgebildete“ Kindermädchen. Familien nutzen jedoch zunehmend außerhäusliche Kinderbetreuung. Das kennzeichnet eine neue Art der Kindersozialisation in der Menschheitsgeschichte. Die Aufwachsbedingungen von jungen Kindern werden nun von den Familien und von pädagogischen Fachkräften gestaltet, deren kulturelle und ökonomische Hintergründe, deren Sprachen und Erziehungsvorstellungen sich von denen der Familien unterscheiden. Manche Pädagog_innen sehen die Familien der Kleinkinder, die sie betreuen, als unterlegen an – aus Gründen der ethischen, rassifizierten, kulturellen Herkunft, wegen der Sprache, ihrem Migrant_innenstatus oder ihrer Armut.

Es ist wichtig für Erzieher_innen, zu erkennen, dass eine zunehmende Zahl von Kindern und Kleinkindern täglich zwei verschiedene kulturelle Kontexte erlebt. Es kann das Ergebnis einer bewussten Entscheidung in einer Krippe oder Kita sein, die Erziehungspraxis von Familien nicht zu berücksichtigen, weil angenommen wird, dass sie den fachlichen Vorstellungen und Praktiken nicht genügt. Oder es kann das Ergebnis einer „automatischen“ und nicht weiter überprüften Anwendung von Überzeugungen im Bereich der Kleinkindpädagogik sein, was das Beste für Kinder sei. Was sind die Folgen von solchen täglichen Brüchen für die Entwicklung der Kinder? Betrachten wir die Sprachentwicklung von Kindern als ein Beispiel. Wir wissen, dass Kinder mit der Kapazität geboren werden, jede Sprache der Welt zu erlernen. Unser Gehirn ist dafür geschaffen. Sprache wird jedoch immer im sozialen Kontext gelernt – indem die Kleinkinder die Klänge, Betonungen, Wörter und Muster der Familiensprache hören und anfangen, sie nachzuahmen. Was passiert nun, wenn ein Kleinkind den einen Teil des Tages eine Sprache hört, und den anderen eine andere? Lassen Sie uns über etwas anderes nachdenken: Wir glaubten früher, dass Säuglinge und Kinder ihre Verhaltensregeln nach und nach in den Interaktionen mit Mitgliedern der Primär‑ und Großfamilie erlernen. Was passiert, wenn sie sich täglich in zwei verschiedenen Settings von Verhaltensregeln bewegen? Das bleiben offene Fragen, denn wir kennen die Antwort nicht wirklich.Sozialisation in zwei Kulturen

Von den vielen Säuglingen und Kleinkindern, die täglich sowohl ihre Familien als auch die Kindertagesstätten erleben, erfahren einige ein hohes Maß an Kontinuität, während andere einem hohen Maß an Diskontinuität ausgesetzt sind. Während die Langzeiteffekte des Aufwachsens in zwei verschieden Kulturen auf die Entwicklung und Identitätskonstruktion von Kindern noch nicht erforscht sind, ist offensichtlich, dass es für Säuglinge oder Kleinkinder in Abhängigkeit von ihrer Vertrautheit mit den Erziehungspraktiken einfacher oder schwerer ist, sich in einer Krippe oder Kita einzugewöhnen, stabile Beziehungen aufzubauen, kompetent zu handeln und sich sicher zu fühlen. Je größer die Kluft zwischen Familie und Krippe oder Kita, je eher glauben die Kinder, dass das, was sie in ihren Familien darüber lernen, wie sie in der Welt sein sollen, in der Krippe/Kita nicht gilt. Dies wirkt als Benachteiligung, sofern sie dann nicht wissen, was sie erwarten können und insofern sie sich mit ihren Erzieher_innen nicht so einfach wohl oder sicher fühlen können. Somit ist ihr erster Kontakt mit einer öffentlichen Einrichtung außerhalb ihrer Familie problematisch und schwierig.

Wir wissen auch aus Erfahrung, dass es ein Entwicklungsrisiko für Kinder darstellt, wenn Lehrer_innen und Erzieher_innen ihre Familienkulturen nicht kennen oder ignorieren, oder ihn für weniger wert, unangebracht oder „depriviert“ halten. Sprachliche und kulturelle Brüche verursachen häufig Angst, Minderwertigkeitsgefühle, Langeweile, Beschämung. Schulkinder, die solche Brüche erleben, verbunden mit Vorurteilen seitens der Lehrer_innen, sind in Gefahr, ein negatives Selbstbild von sich selbst als Lernende, Lesende, Schreibende, Sprechende zu entwickeln.

Wir wissen auch, dass junge Kinder aufblühen, wenn Kitas ihre Herkunftssprachen und die häuslichen Praktiken der Kindererziehung respektieren und in den Alltag integrieren. In solchen Programmen können Kinder lernen und sich entwickeln, weil sie sich „unterstützt, genährt und verbunden fühlen. Nicht nur mit ihren Herkunftsgesellschaften und Familien, sondern auch mit den Lehrenden und der Bildungseinrichtung.“ (NAEYC 1995, 2) Dies reduziert die kulturelle Kluft zwischen dem Zuhause und den Einrichtungen und schafft ein gerechteres Lern‑ und Spielumfeld für alle Kinder.

Der Bereich der Frühkindlichen Bildung und Erziehung hat schon lange darauf bestanden, dass emotionales Wohlbefinden und soziale Sicherheit eine wichtige Voraussetzung dafür sind, kognitive Fähigkeiten zu entwickeln. Sie sind „Ziegelstein und Mörtel“ im Fundament der menschlichen Entwicklung. Die Dynamik des gegenwärtigen strukturellen und individuellen Rassismus und anderer ‑ismen wirkt als Angriff auf die sozial‑emotionale Entwicklung vieler Kinder und beeinträchtigt ihre Lernergebnisse und ihren Schulerfolg. Wenn wir Kinder gedeihen und aufblühen lassen wollen, müssen wir diese Dynamiken verstehen und abschaffen.Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit

Weil Kinder von ihrem ersten Lebensjahr an aufmerksam beobachten, was um sie herum geschieht, wird das, was sie nicht sehen oder hören genauso bedeutsam wie das, was sie sehen und hören. Unsichtbarkeit löscht Identität und Erfahrung aus, Sichtbarkeit bestärkt Wirklichkeit. Darüber, wie sichtbar sie selbst und ihre Familien in der Umgebung sind, lernen Kinder, welchen Wert sie und ihre Familie haben. Und wie ich schon zuvor erwähnt habe, beginnt die Entwicklung der sozialen Gruppenidentität bereits im ersten Lebensjahr.

Sichtbarkeit und positive, verlässliche Botschaften über ihre sozialen Identitäten führen zu einer gesunden Identitätsentwicklung. In einer Welt, in der jedoch nur die Identitäten einiger Kinder gestärkt werden und die von anderen nicht, hat die positive Botschaft gleichzeitig auch einen nicht‑so positiven Lerneffekt: Die Botschaft sagt den Kindern, dass sie die EINZIGEN sind, die normal und richtig seien. Und dass alle diejenigen, die sich von ihnen unterscheiden, fremd, „anders“, und daher nicht normal oder richtig seien. Sind die Identitäten von Kindern nicht sichtbar und übernehmen sie die negativen Botschaften, die es in der Gesellschaft über sie gibt, so kann es sein, dass Kinder sich dafür schämen, wer sie sind. Die Gefahr ist, dass sie sich selbst begrenzen und klein machen. Familien und Pädagog_innen können Einfluss auf beide Prozesse bei Kindern nehmen, sowohl auf ihre frühe Vorurteilsbildung, wer normal sei oder nicht, wie auch auf die Verinnerlichung von negativen, begrenzenden Botschaften über sich selbst.

Notwendig ist eine materielle Lernumgebung, die inklusiv ist: Sie spiegelt ganz genau die Kinder und Familien der Krippe/Kita wieder. Das umfasst die ästhetische Erscheinung der Kita, die Bilder und Botschaften in den Materialien, die Sprachen, die Ausstattung und Möblierung, die Organisation von Raum und Zeit, das Essen und auch die Musik. Die kulturellen und sichtbaren Unterschiede zu ignorieren oder zu verleugnen führt immer zur Schaffung einer kulturell einseitigen Umgebung, die üblicherweise Werte der in einer Gesellschaft dominanten Kultur vertritt. Daher ist dies keine Lösung. Es ist auch keine Lösung, nur punktuell einzelne Teile aus den Familienkulturen herauszunehmen. Sind sie nicht wirklich Teil des pädagogischen Vorgehens, so vermitteln sich auch darüber unangemessene Botschaften. Wir nennen dies den „touristischen Ansatz“, weil er bestimmte Familienkulturen anders als die gesellschaftlich dominante Kultur behandelt und ihnen nur gelegentlich einen Besuch abstattet, aber nicht wirklich in das alltägliche Leben der Bildungseinrichtung einbindet. Die über allem stehende Botschaft bleibt: Die dominante Kultur ist die normale und richtige.Armut

Armut beeinflusst alle Aspekte des Lebens der Kinder auf vielfältige Weise. Armut verwehrt Familien die Ressourcen, die sie für eine optimale Entwicklung benötigen. Es kann dann sein, dass nur Wohnungen in alten, heruntergekommenen Gebäuden zu haben sind, die ungenügend beheizt oder belüftbar sind, häufig überfüllt, mit Farbanstrichen, die Gifte ausdünsten. Familien, die in Armut leben, haben in den USA viel häufiger keine Krankenversicherung. Das bedeutet oft unzureichende oder gar keine Schwangerschaftsvorsorge und anschließende Säuglingsbetreuung. Arme Familien sind häufiger auf die Krankenhausnotversorgung angewiesen und müssen oft lange Strecken von zu Hause zurücklegen. Sie sind oft bei weniger erfahrenen Ärzten, nachdem sie stundenlang in überfüllten Wartesälen gewartet haben. Studien habe gezeigt, dass die Nahrungsmittel in armen Nachbarschaften häufig schlechtere Qualität haben und teurer sind. Also egal, wie liebevoll und geschickt die Familie ist, die Realität von Armut ist eine unüberwindbare Barriere für ein optimales Aufwachsen von Kindern.

Zusammen mit weiteren Faktoren, die mit Armut verbunden sind, nehmen die Probleme zu. Im gegenwärtigen politischen Klima in den USA, das Immigrant_innen entgegenschlägt, haben Familien oft keinen Zugang zu Sozialleistungen und Gesundheitseinrichtungen, die die Entwicklung von Kindern unterstützen könnten. Eingewanderte Eltern können abgeschoben werden, ohne Rücksicht darauf, was mit den Kindern passiert, die sie zurücklassen. Familien, die von einer alleinerziehenden Mutter betreut werden, sind häufiger von Armut betroffen, als Kinder aus anderen Familien. Die Armut in ländlichen Gebieten nimmt zu, ungeachtet des rassifizierten oder ethnischen Hintergrunds der Familien.

Erzieher_innen können die Bedingungen der Familien, die in Armut leben, nicht verändern. Sie können sich jedoch weigern, diese Familien und Kinder wegen ihrer Lebensverhältnisse als weniger intelligent oder kompetent zu behandeln. Sie können sich Kenntnisse darüber aneignen, was es heißt, ein Kind in armen Verhältnissen groß zu ziehen und sie können Maßnahmen ergreifen, um die negativen Auswirkungen zu vermindern.

Eine inklusive Kitakultur entwickeln

Um der großen Verantwortung gerecht zu werden, Kitas zu entwickeln, die gleichermaßen allen Säuglingen und Kleinkindern gerecht werden, schlage ich folgende Strategien vor:

Erweitern Sie das Bewusstsein und Wissen von Leitung und Pädagog_innen

„Bei dieser Arbeit geht es in gleicher Weise darum, die eigene Perspektive als Pädagogin oder Pädagoge zu verändern, wie um praktische Aktivitäten mit den Kindern. Wenn du nicht bereit bist, dich selbst als Person den vier Zielen der Anti‑Bias‑Pädagogik zu verpflichten, dann macht das Andere keinen Sinn.“ (Derman‑Sparks & Edwards, 2010, p 20).

Früher dachte ich, dass die Umsetzung des Anti‑Bias‑Ansatzes oder der inklusiven Pädagogik für Erzieher_innen schwierig ist, weil der Ansatz komplex ist und viel Wissen und Fähigkeiten voraussetzt, die vielleicht noch nicht vorhanden sind. Bis zu einem gewissen Grad glaube ich dies auch immer noch. Aber ich denke nicht mehr, dass dies die ganze Erklärung ist. Eine Erfahrung, die ich vor einigen Jahren bei einem Training mit Krippenerzieher_innen hatte, hat mich meine Meinung ändern lassen. Als ich bemerkte, dass es in der Gruppe großen Widerstand gegen die Idee gab, die Familienkulturen der Säuglinge und Kinder in die Krippe zu integrieren, habe ich mich dazu entschlossen, etwas kreativ zu werden. Ich dachte, wenn ich etwas Spielerisches einbringe, hilft das vielleicht, die Teilnehmenden für Wirklichkeiten zu öffnen, wie man unterschiedlichen Kulturen begegnen kann. Ich habe ein Szenarium entwickelt, in dem eine Delegation vom Mars auf die Erde kommt und eine Gruppe ausgebildeter Erzieher_innen darum bittet, ihnen dabei zu helfen, ihre erste Kita einzurichten. Ich erfand einige kulturelle Merkmale der Marsbewohner_innen, die für die Einrichtung einer Kita wichtig waren, gleichzeitig aber wesentlich von denen der Teilnehmenden abwichen. Die Mars‑Familie bestand zum Beispiel aus drei Erwachsenen, einer männlichen, einer weiblichen und einer androgynen Person. Die Sprache bestand aus Klicklauten, auf die Babys wurde sofort dann reagiert, wenn sie anfingen zu schreien und sie schliefen in Hängematten. In Arbeitsgruppen bekamen die Teilnehmenden den Auftrag, jeweils einen bestimmten Aspekt der neu zu gründenden Einrichtung zu bearbeiten.

Als die Arbeitsgruppen wieder zurückkamen, berichteten sie alle, dass ihnen die Übung sehr gefallen hatte und sie viele kreative Ideen hatten. Ich fragte sie, womit es zu tun haben könnte, dass sie es einfacher fanden, die Marsianische Kultur zu integrieren, als sich auf die Familienkulturen der Säuglinge und Kinder in ihrer Einrichtung einzustellen. Im Raum wurde es ganz still. Schließlich stand eine mutige Person auf und sagte: „Weil dies unser Land ist!“ Sie sprach für viele in der Weißen Amerikanischen Dominanzkultur, die glauben, dass am besten alle in den USA nach dieser dominanten Kultur leben sollten. Hier wurde mir klar, dass es bei der Entwicklung von inklusiven Einrichtungen darum geht, ob man sie will und nicht nur darum, ob man das nötige Wissen und die Fähigkeiten hat.

Als Anti‑Bias‑Pädagog_innen müssen wir die grundlegende Prämisse akzeptieren, dass kulturelle Vielfalt einen positiven Beitrag zum Wohl unseres Landes erbringt. Es bedeutet

  1. den Einfluss unserer eigenen Kulturen auf Lehr‑ und Lernformen zu verstehen,
  2. ernsthaft unsere eigenen Vorurteile, Stereotypen, Fehlinformationen und Wissenslücken zu untersuchen und
  3. die Bereitschaft und Fähigkeiten, von jedem Kind und jeder Familie zu lernen, möglichst ohne Vorurteile und Verurteilungen.

Zusätzlich brauchen Pädagog_innen „Equity Literacy“ (Gorki, 2014), also eine Art Alphabetisierung zu Fragen von Gleichwürdigkeit. Sie beinhaltet die Fähigkeit, mehr oder weniger subtile Einseitigkeiten und Ungerechtigkeiten in den Rahmenrichtlinien, Leitbildern, den Strukturen der Einrichtungen zu erkennen, auch in den Vorstellungen über Entwicklung und Diversität, sowie in den Lehrmethoden. Man braucht Wissen und Fähigkeiten, um auf Ungerechtigkeit zu reagieren und wirkungsvoll Veränderungen in der Kindergruppe, in der Kita und im Quartier zu initiieren und am Laufen zu halten.

In jeder Krippe oder Kita sind die Mitarbeiter_innen mit großer Wahrscheinlichkeit auf einem unterschiedlichen Stand, was ihr Bewusstsein, ihr Interesse und ihr Wissen über inklusive Pädagogik betrifft. Der Erkenntnisstand unterscheidet sich zudem auch je nach Aspekt sozialer Gruppenidentität: Es kann zum Beispiel sein, dass jemand auf seiner Anti‑Bias Reise in Bezug auf Gender und Sexismus weiter gekommen ist als in Bezug auf Rassismus. Jede_r macht einen spezifischen Entwicklungsprozess durch, wenn er_sie sich auf den Weg macht, inklusive Pädagogik zu verstehen und zu praktizieren.

Wenn Menschen die ersten Schritte auf ihrer Anti‑Bias‑Reise gehen, schauen sie sich ihre sozialen Identitäten, ihre Erfahrungen und Haltungen gegenüber bestimmten sozialen Gruppen und ihr Verständnis von sozialen Ungerechtigkeiten kritisch an. Sie setzen sich mit der Vorstellung auseinander, dass jede_r eine Kultur hat und versuchen, die Besonderheiten ihrer eigenen Kultur herauszufinden. Sie zeigen Offenheit und möchten erfahren, auf welch unterschiedliche Weise Familien ihre Kinder großziehen und sie sehen die Notwendigkeit, von den Familien zu lernen. Wenn Menschen damit beginnen, kann es zu emotionalen oder intellektuellen Irritationen kommen. Für manche Menschen ist das Unbehagen dann so groß, dass sie lieber in den vorigen Zustand der Verleugnung zurückkehren möchten: „Ich bin ja total für Vielfalt, aber reden wir nicht zu viel darüber?“

In der zweiten Phase der Reise wird die Entscheidung getroffen, sich für inklusive Pädagogik einzusetzen. Menschen beginnen damit, sich und ihre Arbeit kontinuierlich kritisch zu reflektieren und wollen weiterlernen. Sie verstehen ihre eigenen sozialen Gruppenidentitäten immer besser und sehen zunehmend die Verbindung zwischen Identität und ihrem fachlichen Handeln. Sie gehen aktiv in den Dialog mit Eltern der Kinder ihrer Gruppe. Sie implementieren inklusive Pädagogik, weil sie es selbst wollen und nicht, weil die Kitaleitung es will. Sie tun es, obwohl diese Art zu arbeiten noch nicht üblich ist.

In der dritten Phase der Reise wird Anti‑Bias oder inklusive Pädagogik die Norm. Die Menschen integrieren selbstverständlich Anti‑Bias Werte und Begriffe in alle Aspekte ihrer Arbeit. Sich für Anti‑Bias Pädagogik zu engagieren wird jetzt zur gemeinsamen Sache zwischen Pädagog_innen, Familien, und der Leitung. Sie fühlen sich wohler und kompetenter im Umgang mit kulturellen Unterschieden und Konflikten, ob nun mit einem Familienmitglied oder zwischen den Pädagog_innen. An diesem Punkt der Reise wundern sich die Personen, wie sie je mit Kindern auf eine andere Weise arbeiten konnten.

Verändern Sie die Kitakultur von einer monokulturellen zu einer Kultur der Vielfalt und Gleichwürdigkeit

Die Prämissen, Organisationsstrukturen und Alltagspraktiken in traditionellen Kitas sind tendenziell monokulturell ausgerichtet. Diese Ausrichtung entspricht üblicherweise der Weltsicht von gesellschaftlich dominanten Gruppen. Werden diese Vorstellungen und Ansätze gedankenlos übernommen, so kann es sein, dass Kitas selbst zu einer Quelle von Einseitigkeiten und Ungerechtigkeit werden, sofern sie Erziehungspraktiken der Familien, die sich von ihren unterscheiden, als falsch oder ungenügend abtun. Dies fordert uns auf, unsere Kitas daraufhin zu untersuchen, ob ihre Richtlinien, Abläufe und Alltagspraktiken einige soziale Gruppen bevorzugen und andere benachteiligen. Inklusive Pädagogik erfordert das bewusste Entwickeln einer multikulturellen Perspektive. Dadurch kommen Gruppen, die in der Theorie und Praxis Früher Bildung nur am Rande vorkommen, ins Zentrum des Geschehens. Veränderungen der traditionellen und dominanten Ansätze in der frühen Bildung sind erforderlich.

Zentral für eine erfolgreiche Arbeit mit Säuglingen und Kleinkindern ist die gute Zusammenarbeit mit den Familien der Kinder, denn Erzieher_innen teilen sich die wichtigsten Sozialisationsaufgaben mit den engsten und weiteren Bezugspersonen. Zwischen Familienmitgliedern und Erzieher_innen kann es vielfältige Machtverhältnisse geben. Manchmal ist der sozio‑ökonomische Status einer Familie höher als der des Personals, manchmal ist es andersherum. Beide Formen von Machtungleichheit machen es schwer, eine partnerschaftliche Arbeitsbeziehung aufzubauen. Deshalb muss insbesondere die Kitaleitung darauf achten, dass sich ein Klima entwickelt, in dem alle Beteiligten in der Kita eine Stimme habe und gleichwürdige Möglichkeiten, ihre Ideen einzubringen.

Kitaleitung und pädagogische Fachkräfte müssen kreativ sein beim Gestalten der Lernumgebung und bei der Gestaltung ihrer Routinen. Eines meiner Lieblingsbeispiele ist das einer Krippe, die insbesondere von neu eingewanderten Eltern aus Südost‑Asien besucht wurde. Hier haben die Erzieher_innen die Schlafsituation verändert: Die Kinder waren es gewohnt, in Hängematten zu schlafen. Für die Betriebserlaubnis war jedoch vorgeschrieben, dass jedes Kind ein eigenes Bett hat. In diesen Betten konnten die Kinder einfach nicht schlafen. Die Erzieher_innen in der Krippe haben kurzerhand Hängematten quer über die Kinderbettchen gehängt – und die Babys konnten ruhig schlafen. Eine inklusive Anti_Bias Kita ist aufmerksam für Kontinuität oder Brüche, was die Sprachen der Kinder angeht, ausgehend von Erkenntnissen über bilinguale Sprachentwicklung, nicht von politischen Meinungen oder Vorurteilen. Die Einrichtungen bemühen sich um Personal, das die Erstsprachen der Säuglinge und Kleinkinder in der Kita spricht, um Kinder beim Erwerb ihrer Erstsprachen zu unterstützen. Die Erzieher_innen sind aufgefordert, selbst eine zweite Sprache zu lernen – eine wirklich anspruchsvolle Herausforderung. Universitäten und Kitaleitungen können diesen Aspekt von Weiterqualifizierung ermöglichen.

Inklusive Kitas für Säuglinge und Kleinkinder sehen nicht alle gleich aus. Sie sehen aber auch nicht aus wie das Zuhause eines der Kinder. Sie verändern sich kontinuierlich, je nach Menschen, die in der Kita sind (Kinder, Familien, Personal). Inklusive Pädagogik bedeutet nicht, dass Erzieher_innen alles aufgeben müssen, was sie über die Entwicklung von Säuglingen und Kleinkindern gelernt haben, um Lernumgebungen von hoher Qualität zu schaffen. Man muss wissen, wie man auf Familienmitglieder zugehen muss, um über sie das Verhalten und die Reaktionen ihrer Kinder besser verstehen zu können. Man muss wissen, wie man sich zwischen der Familienkultur und der Kitakultur hin‑ und her bewegt. Es heißt aber nicht, alles in die Kita hereinzuholen, was jede Familie tut. Es ist schlicht unmöglich, weil jede Familie ihre Familienkultur auf eine sehr spezifische Weise pflegt. Auch Familien derselben ethnischen oder kulturellen Gruppe machen nicht alles auf dieselbe Art und Weise. Carol Brunson Day, eine Expertin zur gleichwürdigen Bildung, Erziehung und Betreuung in den USA, betont, dass die Gewohnheiten einer Kita nicht der einzige Weg sind:

„Wir können uns Prinzipien aneignen, um kulturell konsistente Kitas aufzubauen. Aber es gibt dafür kein Rezept. Familien und pädagogische Fachkräfte bauen zusammen daran. Es ist immer ein dynamischer Prozess, der davon abhängt, welche Menschen zu welcher Zeit in einer Kita sind. Wenn du offen dafür bleibst, dass dein Weg nicht der einzige und beste ist, wenn du in die Fähigkeit der Menschen vertrauen kannst, dass sie die Unterschiede herausfinden werden, wenn du wirklich daran arbeitest, dann kannst du die Realität in deiner Kindergruppe verändern. Wenn jede und jeder den Zugang hat, um gangbare Lösungen mitzuentscheiden, dann gibt es wirklich Gleichberechtigung.”

Setzen Sie sich mit Irritationen und Konflikten auseinander

Anti‑Bias‑Arbeit bringt Meinungsverschiedenheiten und Dissonanzen hervor, auch emotionale und intellektuelle Irritationen. Das ist unvermeidbar, weil es den pädagogischen Fachkräften, den Eltern und den Verwaltungsmitarbeiter_innen um die tief verinnerlichten unterschiedlichen Erziehungswerte und Überzeugungen über die Erziehung junger Kinder geht. Die Irritation, die durch einen Konflikt ausgelöst wird, kann Problemlösungen einleiten, die darin bestehen, dass Menschen Informationen austauschen, sich ihnen Lernmöglichkeiten bieten und sie ihre Perspektiven und Verhaltensweisen verändern können.

Bei Konflikten unter den Beteiligten über Anti‑Bias Arbeit geht es prinzipiell nicht um das Gewinnen oder Verlieren. Die erste Strategie ist immer, eine win‑win‑Lösung zu finden. Aber die Realität ist komplexer. Es gibt nicht die eine passende Lösung für alle Fälle. Anti‑Bias Arbeit bedeutet nicht, dass alle Überzeugungen und Wertvorstellungen akzeptiert werden, denn das hieße, die vier Ziele aus den Augen verloren zu haben.

Einen “dritten Raum” zu finden ist ein bevorzugter Weg, um gute Lösungen für Konflikte in bestimmten Situationen zu finden. Der „dritte Raum“ ist ein Ort, in dem Menschen, die einen Konflikt miteinander haben, eine Einigung erzielen, die über ihre jeweilige ursprüngliche Position hinausgeht. Eine solche Lösung zu finden ist deswegen wünschenswert, weil sie auf die Kreativität und Offenheit der Beteiligten setzt, zu einer Alternative zu finden, die keine der beiden Streitpositionen bevorzugt. Es ist eine emotionale und intellektuelle Erfahrung, bei der die Beteiligten ein neues Verständnis und neue Lösungen entwickeln. Sie erfordert, dass Menschen bereit sind, in einen Dialog einzutreten, bei dem sie einander respektieren und die Bereitschaft haben, vom jeweils Anderen zu lernen (Freire, 1970). Es gibt sie nicht, die abstrakte und klare Lösung für jegliche Konfliktsituation. Es gibt nur jeweils eine, die Sinn macht in der einen konkreten Situation. Drei mögliche Lösungen sind wahrscheinlich:

  1. Die Kitaleitung oder die pädagogische Fachkraft versteht und stimmt der Lösung zu, die von Familienmitgliedern vorgeschlagen wurde, um Übereinstimmung mit den Vorstellungen der Familie über Kindererziehung herzustellen.
  2. Die Familie und die Kitaleitung und/oder die pädagogische Fachkraft stimmen einer Lösung zu, die das Verhalten von beiden Seiten modifiziert.
  3. Die Familie bestätigt die Praxis der Kita, ohne sie unbedingt zu verstehen, und beschließt, damit zu leben. (Derman‑Sparks, 2013)

Praktiken, die Menschen wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe diskriminieren, sind im Anti‑Bias Approach niemals akzeptabel. In solchen Konflikten ist der Zugang dieser: “Lass uns darüber sprechen, wie wir alle Familien hier in dieser Kita einbeziehen und alle Familien unterstützen können, wie wir diese Einrichtung so inklusiv wie möglich machen können.“

Entwickeln Sie Ihre Organisation so, dass sie eine Pädagogik der Inklusion unterstützt

Schreiben Sie Ihre Vision und Ihr Leitbild auf, damit sie der täglichen Praxis in der Kita Orientierung geben und die Wertebasis darstellen, auf deren Grundlage auftretende Probleme gelöst werden können. Sind Kitaleitung und pädagogische Fachkräfte, mit Input der Familien, daran beteiligt, die Visionen und das Leitbild der Kita zu formulieren, so wächst das gemeinsame Verständnis von inklusiver Pädagogik.

Beginnen Sie bei den Zielen, auf die Sie sich bereits geeinigt haben und mit einem strategischen Plan, wie das Leitbild und die Vision der Kita lebendig werden können. Die Entscheidung für inklusive Pädagogik gibt Energie, klare Ziele und strategische Planung verwandeln die Energie in Handeln. Dazu gehört die Entscheidung, worauf man achten möchte, in welchem Tempo man vorangehen möchte und welche Route wohl die effektivste ist, um die Vorhaben und Ziele umzusetzen.

Sorgen Sie mit Ihrem Managementsystem dafür, dass die Zeit und die Ressourcen für die Implementierung von Anti‑Bias Arbeit vorhanden ist. Überprüfen Sie, ob die formalen wie die informellen Maßnahmen der Einrichtung das ganze Spektrum von Familien und Sprachen abdecken (z.B.: Sind Schrieben an die Familien adressiert an „Liebe Eltern“ oder „Liebe Familien“, womit auch alleinerziehende Eltern oder Familien, in denen die Großeltern das Sorgerecht haben, angesprochen sind). Sorgen Sie dafür, dass die pädagogischen Fachkräfte regelmäßig Zeit für Fortbildungen haben und wöchentliche Besprechungen, um ihre Arbeit zu reflektieren und zu planen. Stellen Sie sicher, dass alle Stimmen im Team gehört werden und ermutigen sie gemeinsame Problemlösungen. Stellen sie ein Budget zusammen für die Anschaffung von Lernmaterialien, die Prinzipien der Anti‑Bias Arbeit berücksichtigen, für die Fortbildung von pädagogischen Fachkräften, für die Ausstattung, für Übersetzungen zur Sicherung der Kommunikation in mehr als einer Sprache.

Beachten Sie die Vielfalt im Team und die Dynamik von Teambeziehungen. Dazu gehören die Kitaleitung, pädagogische Fachkräfte, das Küchenpersonal, das Reinigungspersonal usw. Ist die Zusammensetzung des Teams vielfältig in Bezug auf Gender, ethnische Identität, Familienkultur usw.? Sind die Teamhierarchien in Übereinstimmung mit den gesellschaftlichen Dominanzverhältnissen, wonach Weiße die leitenden Positionen einnehmen und Schwarze die untergeordneten, oder stehen sie im Widerspruch dazu? Idealerweise gibt es auf jeder Hierarchiestufe Menschen mit ähnlichen Identitätsaspekten wie die Kinder und Familien in der Kita. Respektvolle und kooperative Beziehungen unter den Teammitgliedern sind wesentlich. Auch das bietet den Beteiligten vielfältige Möglichkeiten, ihre Fähigkeiten zur Implementierung von inklusiver Pädagogik weiter zu entwickeln.

Gehen Sie über die Kita hinaus. Die Fachleute im Feld der Frühen Bildung sind die Hauptpersonen, wenn es darum geht, inklusive Anti‑Bias Kitas zu gestalten, die alle Kinder dabei unterstützen, sie in ihrer allgemeinen Entwicklung und in ihren sozialen Gruppenidentitäten zu bestärken. Dazu gehören die Kitaleitungen, die pädagogischen Fachkräfte und alle weiteren Teammitglieder, die dafür sorgen, dass die Kita gut arbeitet. Dazu gehören aber auch weitere Fachleute: Angehörige der Erziehungsfakultäten der Universitäten, Fortbildner_innen, Autor_innen von Publikationen über Erziehung, Forscher_innen und Mitarbeiter_innen von Berufsorganisationen. Die Menschen in all diesen Bereichen können zu einer Pädagogik der Inklusion beitragen – oder ihre Implementierung verhindern. Wenn wir uns für Anti‑Bias Arbeit und inklusive Kitas einsetzen, dann müssen wir mit ihnen zusammen arbeiten und dafür sorgen, dass alle Bereiche im Feld der frühen Bildung eine Pädagogik der Inklusion unterstützen.

Ich möchte meine Ausführungen beenden mit einem Zitat von Alice Walker (1989), das mir aus dem Herzen spricht: “Sei dir immer der Gegenwart bewusst, die du schaffst. Sie sollte die Zukunft sein, die du willst.“

Fußnoten

1) Übersetzung aus dem Englischen: Fachstelle Kinderwelten (Nele Kontzi, Kathrin Bierwirth, Berit Wolter, Karola Erlenbach, Petra Wagner)

2) Oder auch Ich‑Identität

3) Im Original „ethnic and racial identity“, im Deutschen am ehesten mit „rassialisierte Identität“ zu übersetzen, um deutlich zu machen, dass es sich bei „Rasse“ um eine soziale Konstruktion handelt.

4) Siehe vorige Fußnote

5) Viele der Familien waren Immigrant_innen aus Mexiko, Südamerika, oder Südostasien und kamen aus ländlichen Gebieten und sprachen andere Sprachen als Englisch.

Literatur

BEONSON, P./ MERRYMAN, A. (2009): See Baby Discriminate. Newsweek (September 14): 53–59.

CLARK, K. B. (1963): Prejudice and your child (2nd ed.). Boston, MA: Beacon Press

CROSS, W. E., JR. (1991): Shades of black: Diversity in African‑American identity. Philadelphia: Temple University Press.

DERMAN‑SPARKS, L./ OLSEN EDWARDS, J. (2010): Anti‑Bias Education for Young Children and Ourselves. Washington, DC: NAEYC.

PIERCE, C. M (1980): Social Trace Contaminants: Subtle Indicators of Racism. In: Television and Social Behavior: Beyond Violence and Children, edited by S. Withey, R. Abeles and L. Erlbaum, 249–57. Hillsdale, NJ: Erlbaum.

UNICEF (1990): Fact Sheet: A Summary of the Rights under the Convention on the Rights of the Child. New York: UN General Assembly. http://www.unicef.org/crc/files/Rights_overview.1‑3 (accessed November 7, 2012).

WALKER, A. (1989): Temple of my familiar. New York, NY: Harcourt Brace Janovich.