1. Kinder beziehen sich bei der Aushandlung von Spielinteressen und bei der Bevorzugung oder Ablehnung von Spielpartner_innen auch auf Religion. Dies tun sie bereits im Kita-Alter. Sie nehmen Bezug auf Religion(en) wie auf andere Aspekte von Zugehörigkeit, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede untereinander zu benennen. Die Bezugnahme auf Religion(en) kann zu Ein- und/oder Ausschluss führen.
  2. Religiöse Orientierungen sind vermischt mit sozial-kulturellen Praxen und Traditionen. Religion(en) begegnen Kindern in dieser Vermischung, im Kontakt mit Menschen, die Religion eine Bedeutung geben und im Kontakt mit bewertenden Botschaften über Menschen entlang von Religion(en), die Kinder als Teil gesellschaftlicher Diskurse in ihrem Umfeld wahrnehmen.
  3. Diese Diskurse sind gegenwärtig in Deutschland stark antimuslimisch geprägt. Der „Westen“ bzw. das „Abendland“ wird als fortschrittlich, aufgeklärt, emanzipiert konstruiert, wohingegen der „Islam“ als unterdrückerisch, patriarchal, nicht fortschrittlich etc. Nach den Anschlägen in den USA am 11.09.2011 findet dazu noch die Verknüpfung mit Terrorismus statt. Kinder bleiben von diesen Diskursen nicht unberührt, vielmehr beeinflussen diese bewertenden Botschaften Kinder in ihrer Identitätsentwicklung und in ihrem Erleben von Zugehörigkeit und Ausgrenzung.
  4. Auf institutioneller Ebene kann festgehalten werden, dass Kitas und Schulen in Deutschland häufig einseitig christlich-kulturell orientiert sind, ohne dass diese explizit benannt wird und den Beteiligten bewusst ist. Beispiel aus einer Fortbildung:
    Fortbildnerin: „Ist Religion bei euch in der Kita ein Thema?“
    Päd. Fachkräfte antworten alle gleichzeitig: „Nein.“
    Fortbildnerin: „Ostern und Weihnachten feiert ihr, oder?“
    Päd. Fachkräfte: „Ja klar….“

Diese Einseitigkeit zu erkennen fällt insbesondere schwer wegen der Zentriertheit auf die Dominanzkultur. Einseitigkeiten zu überwinden erfordert zunächst, die eigenen und institutionellen Praxen als religiös-kulturell geprägte wahrzunehmen.

  1. Religion als Teil der Familienkulturen braucht in Kita und Schule Wertschätzung und Sichtbarkeit. Geschieht dies nicht, so kann die Selbstbehauptung von nicht-christlichen Eltern und Eltern herausgefordert werden, die symbolische Räume und Einflussnahme fordern.
  2. Das Aufgreifen von Religion(en) in Kita und Schule als Religions-Bildung – im Unterschied zu religiöser Erziehung im Sinne von „religiöser Beheimatung“ – eröffnet Zugänge zu relevantem Weltwissen und kultureller Kompetenzerweiterung, erreichbar über „kommunikative Prozesse des Aushandelns und der verlässlichen Vereinbarungen“ (Dommel 2013, 194). Dabei geht es , so Christa Dommel, „um das Abschiednehmen von einer Kultur des Rechthabens, die `die Wahrheit´ als Besitz der jeweils eigenen Religionsgemeinschaft betrachtet – aber auch von der Anmaßung, alle religiös Gläubigen als ´irrational´ zu belächeln“ (ebd.)
  3. Die Thematisierung von Religion(en) erscheint heikel, weil religiöse Fragen gleichzeitig persönlich und politisch sind: Persönlich, weil sie die individuellen Antworten von Menschen auf Sinnfragen sind. Politisch wegen der Instrumentalisierung des Wahrheitsanspruchs von Religionen auch für kriegerische Zwecke und Unterdrückung anders- oder nichtgläubiger Menschen.
  4. Wenn sich pädagogische Fachkräfte in Kitas und Schulen dem Thema „Religion“ zuwenden, ist die grundsätzliche Unterscheidung von Erwachsenen- und Kind-Ebene wichtig. Was kann getan werden?

Team-Ebene:

  • Im Team über eigene religiöse Erfahrungen ins Gespräch kommen, um mögliche Spannungen auszuräumen und neue Informationen zu erhalten.
  • Die eigenen und institutionellen Praxen als religiös-kulturell geprägte wahrnehmen,  um Einseitigkeiten zu erkennen und zu überwinden.
  • Das Aufdecken von Zuschreibungen gegenüber Eltern und/oder Kinder, die Dialoge verhindern und das Verhältnis angespannt machen.
  • Bei der Anerkennung von Religion als ein möglicher Teil von Familienkultur die Vermischung Religion+Nation+Kultur erkennen und entkoppeln: Jede Familie hat ihre Art und Weise, religiös oder nicht religiös zu leben.
  • Werteklärungen im Team: Es geht darum, einerseits den Kindern für ihre jeweiligen Glaubensvorstellungen Respekt und Akzeptanz entgegen zu bringen und sich gleichzeitig religiös begründeten Ausgrenzungen aktiv zu widersetzen, damit sich alle Kinder sicher fühlen.

Eltern-Ebene:

  • Auch mit Eltern über eigene religiöse Erfahrungen ins Gespräch kommen, um mögliche Spannungen und neue Informationen zu erhalten.
  • Verdeutlichen, dass die Bezugnahme auf Religion häufig etwas Absolutes und Faszinierendes für Kinder hat und dass Kinder Geschichten und Aussagen in ihrem jeweiligen sozialen Kontext eigensinnig und aktiv auswerten.
  • Bei Religionen handelt es sich um komplexe Sinnzusammenhänge, die Kinder zum Teil in Ge- und Verbote sowie richtiges und falsches Verhalten übersetzen. Ihre eigensinnigen Schlussfolgerungen sind beeinflusst von verschiedenen Botschaften, die sie erhalten. Manchmal können diese Botschaften bei den Kindern auch Angst auslösen.
  • Gefahr: Machtmissbrauch von Seiten der Erwachsenen mittels Religion. Daher ist es wichtig, mit Eltern auch über das Thema Adultismus im Zusammenhang mit Religion (Diskriminierungsform von Erwachsenen gegenüber Kindern) ins Gespräch zu kommen.
  • Angstmachen als Erziehungsmittel, das häufig auch religiös „unterfüttert“ wird, und seine Wirkungen auf Kinder mit Eltern thematisieren.

Kinder-Ebene:

  • Berücksichtigen, dass die Bezugnahmen auf Religion häufig etwas Absolutes haben und daher für Kinder faszinierend sind. Und dass sie die Geschichten und Aussagen, die sie in ihrem jeweiligen sozialen Kontext erhalten, eigensinnig und aktiv verarbeiten und auswerten.
  • Berücksichtigen, dass Kinder auch beim Thema Religion aufmerksam sind auf das, was „ihnen in sinnlich wahrnehmbarer Gestalt begegnet“ (Dubiski u.a. 2010, 123) und nicht das Abstrakte an Religion, Religionsgemeinschaften und religiösen Traditionen. Erlebnisse ermöglichen, bei denen Kindern sinnlich wahrnehmbar wird, was religiöse/nicht religiöse Menschen tun.
  • Berücksichtigen, dass Kinder bei Religion wie auch bei anderen sozialen Kategorisierungen aufmerksam sind für Hervorhebungen bestimmter Aspekte, die in ihrem Umfeld vorgenommen werden.[1] So kann z.B. die immer wiederkehrende Unterscheidung der Speisen in „mit Schweinefleisch“ und „ohne Schweinefleisch“ dazu führen, dass Kinder religiöse Unterscheidungen ausschließlich entlang dieser Zuordnungen vornehmen und entsprechende Vorurteile ausbilden – sofern es keine anderen Thematisierungen religiöser Unterschiede gibt.
  • Kindern verdeutlichen, dass es viele Religionen gibt und dass es unterschiedlich ist, wie Menschen sie leben.
  • Bewusst machen, dass es Menschen gibt, die an eine Religion glauben und es auch welche gibt, die an keine Religion glauben.

Raumausstattung:

  • Sichtbarkeit von Religionen als Familienkultur in der Lernumgebung, Spielmaterialien, Büchern etc.
  • Bei Darstellungen und Materialauswahl berücksichtigen, dass es gleichwertig ist, mit oder ohne Religion zu leben.
  • Achtung vor der „touristischen Falle“: Bei der Darstellung von Religion darauf achten, dass keine Kopplung von „Nationen“/ „Kultur-Raum“ und „Religion“ stattfindet.

  1. Beim Aktiv werden gegenüber religionsbezogener Ausgrenzung sind dieselben Prinzipien bedeutsam wie bei anderen Ausgrenzungen auch: Es muss interveniert werden, gleich oder später, sonst erleben Kinder, dass religionsbezogene Ausgrenzung akzeptabel ist. Geschieht religionsbezogene Ausgrenzung unter Kindern, so greift das Interventionskonzept Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung:
    1. zuerst das ausgegrenzte Kind trösten und mit ihm über seine Gefühle sprechen
    2. das ausgrenzende Verhalten kritisieren, ohne das ausgrenzende Kind vorzuführen oder zu beschämen.
    3. die Kinder an die Regel erinnern, dass niemand aufgrund eines Merkmals ausgegrenzt oder gehänselt werden darf.
    4. Das Eingreifen damit begründen, dass sich alle Kinder in der Kita wohlfühlen sollen und alle mit dafür sorgen müssen.
    5. unaufgeregt einen klaren moralischen Standpunkt gegen Ausgrenzung vertreten und erklären, was daran ungerecht oder unfair ist.
    6. den Kindern Folgeaktivitäten zu den Themen anbieten, die Anlass für die Intervention waren.[2]

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[1] Salienz, in: Dubiski u.a. 2010, 126.

[2] Vgl. Fachstelle Kinderwelten: Qualitätshandbuch für Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung. Im Erscheinen

Literatur:

Dommel, Christa: Religion – Diskriminierungsgrund oder kulturelle Ressource für Kinder? In: Wagner, Petra (2013) (Hrsg.): Handbuch Inklusion. Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung. Freiburg: Herder

Dubiski, Katja/ Essich, Ibtissame/ Schweitzer, Friedrich/ Edelbrock, Anke/ Biesinger, Albert: Religiöse Differenzwahrnehmungen im Kindesalter. Eine qualitativ-empirische Untersuchung mit Kindern im Alter von 4-6 Jahren. In: Anke Edelbrock / Friedrich Schweitzer / Albert Biesinger (Hrsg.) (2010): Wie viele Götter sind im Himmel? Religiöse Differenzwahrnehmung im Kindesalter. Interreligiöse und Interkulturelle Bildung Band 1. Gefördert durch die Stiftung Ravensburger Verlag. Waxmann Münster 2010

Weitere:

Albert Biesinger / Anke Edelbrock / Friedrich Schweitzer (Hrsg.) (2011): Auf die Eltern kommt es an. Interreligiöse und Interkulturelle Bildung in der Kita. Interreligiöse und Interkulturelle Bildung im Kindesalter Band 2. Gefördert durch die Stiftung Ravensburger Verlag. Waxmann Münster

Friedrich Schweitzer / Albert Biesinger / Anke Edelbrock (Hrsg) (2011): Interreligiöse und Interkulturelle Bildung in der Kita. Eine Repräsentativbefragung von Erzieherinnen in Deutschland – interdisziplinäre, interreligiöse und internationale Perspektiven. Interreligiöse und Interkulturelle Bildung im Kindesalter Band 3. Gefördert durch die Stiftung Ravensburger Verlag. Waxmann Münster

Friedrich Schweitzer / Albert Biesinger / Anke Edelbrock (Hrsg.) (2008): Mein Gott – Dein Gott. Interkulturelle und interreligiöse Bildung in Kindertagesstätten. Beltz Pädagogik (Stiftung Ravensburger Verlag)